Was ist Wahrheit und wie lässt sie sich erkennen? Wie verschlingt sie sich in dem unlösbaren Gewirr von Theorie und Praxis, die beide dialektisch auf einander bezogene Gegensätze und einander konstituierende Voraussetzungen sind? Wenn Theorie Reflexion ist, so bleibt jede Praxis blind und hilflos ohne sie. Aber woher nimmt die Reflexion, nimmt das Denken überhaupt seine Begriffe, wenn nicht aus dem Leben? Das Denken beginnt nicht erst in der Berührung mit der Wissenschaft.
In der Antike war Wahrheit außerhalb der Begriffe. Sie konnte nur in der Versenkung, in Kontemplation erschaut, niemals in den Begriff gebannt und instrumentalisiert werden. Dinge, die solcherart identifiziert und gebraucht werden konnten, galten als kontingent, sie waren vom ontischen Standpunkt her keine letzte Wahrheit. Das kam nur denjenigen zu, die als vom Menschen unveränderbar angesehen wurden. Außerhalb des menschlichen Zugriffs ist aber nur, was sich dem Auf-den-Begriff-bringen versagt.
Heute zweifeln wir an der Existenz einer letzten Wahrheit. Woher sollte sie auch kommen, wenn es uns doch aus heutiger Sicht vollkommen ausgeschlossen scheint, dass etwas außerhalb unseres potentiellen Einflusses liegen sollte. Noch der deutsche Idealismus dachte an eine solche Möglichkeit, aber sein Interesse war schon so sehr auf Naturbeherrschung als Wertmaßstab des Wissens fixiert, dass Kant alles, was außerhalb unseres begrifflichen Einflusses liegt, als dem Denken uninteressant, quasi inexistent postulierte. Und heute: Dass wir sterben müssen – die Medizin arbeitet daran; dass sich die Erde dreht vielleicht wirft ein Atomkrieg sie mal aus der Bahn; die Naturgesetze zumindest können wir sie in Sätze packen und nutzbringend anwenden.
Wenn wir etwas als wissenschaftlich (vorläufig) wahr anerkennen, dann nur das, was sich in der Praxis bewährt, was uns erlaubt, die Natur um uns und in uns zu beherrschen. Wahrheit kommt nicht mehr aus Einsicht des Denkens, sondern aus dem Gelingen einer Aktion. Damit aber wird das Denken, das die Menschheit, seitdem sie sich seiner Möglichkeiten bewusst wurde, als das höchste menschliche Vermögen beschwor, in der neuesten Zeit überflüssig. In Anwendung der Naturgesetze und als reine logische Operation macht es sich den Maschinen gleich, die es einst entwarf. Was dabei herauskommt, können wir täglich auf allen medialen Kanälen bewundern, die nicht müde werden, die neuen Fähigkeiten zur Naturbeherrschung zu feiern, die eine solche Wahrheitskonzeption und eine solch operationalisiertes Denken ermöglichen.
Nur, wozu hat sich die Menschheit einst auf den Weg gemacht, all diese Erfindungen zu machen? Aristoteles spekulierte einst darüber, dass alle Arbeit von Werkzeugen ohne Hinzutun des Menschen erledigt werden könnte. Dann wäre jeder Mensch frei, sich dem zu widmen, was sein Menschsein erst erfüllen würde: Kontemplation sowie Handeln und Sprechen unter Gleichen. Marx träumte ebenfalls davon, dass die Notwendigkeit sich der eigenen Lebenserhaltung zu widmen, irgendwann durch Technik auf ein zeitliches Minimum beschränkt werden würde, und dass die Menschen sich dann ihrer Selbstverwirklichung widmen könnten. Diese Träume sind Vergangenheit und klingen heute für viele naiv und nutzlos romantisch. Wozu Kontemplation auf der Suche nach einer Wahrheit, die einem nichts nutzt?
Aber welchen Nutzen hat das praktischste Ding, wenn wir kein Ziel mehr haben, bei dessen Erreichung es uns helfen könnte.
Dieser Artikel greift auf Gedanken der folgenden Bücher zurück:
Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung
Theodor W. Adorno: Negative Dialektik
Hannah Arendt: Vita Activa oder vom tätigen Leben
Otfried Höffe: Praktische Philosophie das Modell des Aristoteles
Max Horkheimer: Gesellschaft im Übergang
Wahrheit ist die Erfüllung einer Möglichkeit in der Form der Zeit. Die Erkenntnis der Wahrheit ist stets mit Zweifeln und Einschränkungen behaftet. Die Erkenntnis der Möglichkeiten und ihrer Verhältnisse (das ist die logische Erkenntnis) ist hingegen unproblematisch. Die Möglichkeiten sind die Begriffe (das Allgemeine / die Universalia), die in der Form der Zeit mit Wirkung sich erfüllen (welches man das "Währen" nennt). Die Worte und die Gedanken sind nicht die Begriffe: Es sind Wirklichkeiten, welche Begriffe repräsentieren (vorstellen). Die Erkenntnis der Wirklichkeiten ist statistische Erkenntnis; diese ist in ihrer Gültigkeit auf Wahrscheinlichkeiten beschränkt. Die Erkenntnis der Möglichkeiten (das ist die logische Erkenntnis) ist hingegen eindeutig.
"Wahr" ist nicht die Aussage, die auf eine "Wahrheit" zutrifft. Sondern der Gegenstand (Inhalt) der Aussage ist wahr (oder unwahr). Das ist gemeint, wenn wir fragen: "Ist das wahr?"(Beispiel: "Es ist wahr, dass ich heute eine bestimmte Tat begangen habe." Wahr ist die Begehung der fraglichen Tat – nicht die Aussage, die man darüber trifft.)
Hallo Ewald,
ich weiß ja nicht. Wieso vertrittst Du scheinbar eine an Hegel stark angelehnte Wahrheitstheorie, ohne sie als solche auszuweisen? Und wieso kannst Du nicht eine andere Wahrheitstheorie als solche respektieren, der es offensichtlich um etwas anderes geht, als es Hegel ging?
Hallo Lea,
vielen Dank für Deine Rückmeldung. Ich kann durchaus auch andere Wahrheitstheorien respektieren. Ich wusste nicht, dass meine Meinung mit Hegels Lehre übereinstimmt. (Ich habe versucht, Hegel zu lesen, aber ich verstehe kein Wort.)
Mir scheint, dass Sonja sich an Hegel anlehnt, weil ja die Frankfurter Schule auf Hegel zurückgeht. "Wahrheit" ist aus meiner Sicht aber nicht eine Eigenschaft einer Aussage oder eines Gedankens, sondern eine Eigenschaft des Gegenstandes. Die Aussage kann hingegen auf die Wahrheit (nämlich auf die Wirklichkeit) zutreffen.
Ich glaube, mit dieser Auffassung stehe ich heute ziemlich allein da, obwohl wir das Wort "Wahrheit" durchaus in diesem Sinn gebrauchen.
Erkenntnisse über die Wirklichkeit sind grundsätzlich immer mit Unschärfen und Unsicherheiten behaftet und also immer bezweifelbar. (Schließlich arbeiten die Naturforscher hauptsächlich mit Statistiken.)
Offen bleibt die Frage nach dem Sinn der Suche nach der Wahrheit. Wo diese mit Kosten verbunden ist, wird man stets nach der Rendite fragen.
Hallo,
bin froh, dass der blog wieder eröffnet wurde.
Ich möchte daran erinnern, dass Philosophieren vor allem heißt, Fragen zu stellen – die Antworten haben immer die Sophisten…
Sonja: Als du den Übergang vom antiken Wahrheitsbegriff zum modernen Wahrheitszweifel beschrieben hast, ist mir aufgefallen, dass eine Wahrheit, die bezweifelbar ist, ja auch eine sein muss, die denkbar ist. Wieso liegt eigentlich unser moderner Wahrheitsbegriff innerhalb des Denkens, denn vorher scheint er ja außerhalb des Denkens gelegen zu sein (vorausgesetzt, Denken heißt ‚auf den Begriff bringen‘)?
Sollten wir hier von zwei verschiedenen Wahrheitsbegriffen reden. Wenn ja, dann könnte man ja auch fragen, inwiefern die ‚Logik des Sinns‘ der Suche nach der Warheit in beiden Fällen unterschieden ist.
Lag die Wahrheit in der Antike außerhalb der Begriffe oder außerhalb des Denkens? Lag sie außerhalb der platonischen Ideen (die der Zeit vorgeordnet sind) – oder bestand sie nicht gerade in diesen? Liegt sie nicht auch heute noch außerhalb des Denkens – da wir sie für nicht erkennbar halten (weshalb wir die Gedanken heute lediglich nach ihrem Nutzen zu alltäglichen Zwecken beurteilen)?
Ach so: Und was ist ein Begriff?
Sind nicht die Sophisten diejenigen, die Fragen stellen – und durch die Art der Fragestellung den Gegner im Streitgespräch (der die Antworten gibt) dazu treiben, sich selbst zu widersprechen (was man, so verheißen sie, zu juristischen und geschäftlichen Zwecken nützlich anwenden kann)?
Hallo Edward,
also, das Fragen stellen und andere in Selbstwidersprüche treiben war eine Technik des Sokrates. Und dadurch hat er sich von den Sophisten unterschieden.
Die Wahrheit stand Sonja zufolge in der Antike außerhalb der Begriffe, sie bestand in der Einsicht des Denkens. Also muss man folgern: Die Einsicht des Denkens bringt nicht auf den Begriff. Auf den Begriff bringen scheint so etwas wie ‚technisch beherrschen‘ zu meinen.
Im Denken erkennen wir etwas, was nicht technisch beherrschbar, aber doch denkbar ist.
Platons Ideen sind Wahrheiten außerhalb unserer Wirklichkeit, und keine Begriffe. Aber wohl denkbar (als Kontemplation verstanden).
Wie muss ich mir Kontemplation vorstellen? Bei Christen soll Kontemplation auch gerne mal zur Offenbarung führen. Dann kann ich sagen: So ist es.
Ist es so?
Wenn nur die Bedeutung der Aussage wahr ist, die Aussage selbst aber nicht, sondern diese bloß zutrifft, trifft dann bspw. duie begangene Tat nicht zu? Was soll dann der Unterscheid zwischen "wahr" und "trifft zu" sein?
Warum ist eine Erkenntnis der Möglichkeiten unproblematisch? Wer sagt mir denn, dass nur Logisches möglich ist?
Eine Wahrheit die bezweifelbar ist, muss darum doch nicht schon denkbar sein. Ich kann bspw. bezweifeln, dass es Undenkbares gibt; ich kann das Undenkbare aber nicht denken.
Darf ich es deshalb nicht bezweifeln?
Wie kann denn Wahrheit innerhalb des Denkens liegen? Ist Wahrheit damit nicht schon selbst etwas Undenkbares?
Wenn Wahrheit im Denken liegt, wie könnte denn dann das Denken selbst wahr sein? Liegt es in sich selbst?
Wahrheit als Erfüllung der Möglichkeit in Form der Zeit zu sehen ist doch gewissermaßen schon wieder ein Zirkelschluss. Was ist dabei nämlich Erfüllung? Vielleicht Wahrwerdung/Verwriklichung?
Dann aber wäre Wahrheit die Wahrwerdung der Möglichkeit in Form der Zeit. In der Definition ist der zu definierende Begriff dann selbst schon enthalten.
Außerdem wäre meine Frage dabei auch, ob die Zeit selbst wahr ist oder nicht? Ist die Zeit eine "Erfüllung der Möglichkeit in Form der Zeit"?
Gut aber finde ich: "Offen bleibt die Frage nach dem Sinn der Suche nach der Wahrheit. Wo diese mit Kosten verbunden ist, wird man stets nach der Rendite fragen."
(Was ist denn überhaupt der Sinn der Wahrheitssuche? Wozu brauchen wir "Wahrheit"?)
Ich halte das für wahr, was sich bewährt, was sich bewahren lässt.
Vielleicht ist auch alles gleichermaßen wahr. Oder Wahrheit hat überhaupt gar keine Bedeutung, womit sich die Frage "Was ist Wahrheit" vollständig erübrigt.
Außerdem bräuchte Wahrheit immer schon ein Kriterium, was als wahr vorausgesetzt wäre.
Was ist denn ohne Wahrheitskriterium wahr?
@ max,
kann ich denn wirklich bezweifeln, was undenkbar ist? Stelle ich mir das konkret vor, kann ich sagen, ich kann nicht das jeweils konkret Undenkbare bezweifeln. Aber ich kann bezweifeln, dass etwas undenkbar ist. (Z.B. ich sehe die Front eines Hauses und kann vielleicht sagen: Es ist zu bezweifeln, dass es undenkbar ist, wie die Rückseite aussieht, obwohl ich sie nicht sehe. Denken heißt hier: Sich vorstellen können)
Dabei befinde ich mich in einem Übergang vom Denkbaren zum Un-bzw. Noch-nicht-Denkbaren. Ich bezweifele nicht das Undenkbare, sondern den Übergang, den ich als diesen denken kann.