In seinem Roman Rituale schildert Cees Nooteboom die Welt und Sichtweise von Inni Wintrop. Dieser Mann treibt nach einem glücklosen Selbstmordversuch mit einer distanzierten Neugier durch das Amsterdam der sechziger und siebziger Jahre und beobachtet die Rituale der Menschen.
Zuletzt langt er bei der Überzeugung an, „[d]as Universum [käme] recht gut ohne die Welt aus“(1), die Welt ohne Menschen wohl eher besser als schlechter, und die Menschheit problemlos ohne ihn selbst. Vor dem Hintergrund dieser Einstellung zur Welt empfindet er eine Art von Freude am offensichtlichen Niedergang um ihn herum, am politischen, ökonomischen und ökologischen Kollaps; er sieht die Welt in Flammen stehen und erfreut sich an der Schönheit des Funkenfluges in der Nacht kosmischer Bedeutungslosigkeit.
Seine wenigen Freunde werfen ihm diese Haltung als bösartigen Nihilismus vor, was ihn wenig berührt, denn er als einziger „habe sich nicht zu der Doktrin bekehren lassen, dies sei »trotz allem« doch eine ganz annehmbare Welt, nur weil sie nun einmal existierte.“(2) Für ihn, der nicht länger versucht, dem ganzen einen Sinn zu geben, ist das Treiben der Welt nicht mehr als absurdes Theater. „Er hatte einen ausgezeichneten Platz im Saal. Das Stück was mitunter horrorgeladen, dann wieder lyrisch, ein Spiel der Verwirrungen, zärtlich, grausam und obszön.“(3)
Nooteboom beschreibt das tägliche Sinnstiften, den Kampf um die rettende Form für eine furchteinflößend chaotische Welt von außen, aus der Perspektive eines Menschen, der darauf verfallen ist, die Sinnlosigkeit aushalten und sich sogar ganz interesselos daran zu erfreuen.
Für die Perspektivfigur Wintrop sind die Rituale der Menschen ein Schauspiel, dessen Sinn nur für den eingeweihten seinen Zweck erfüllt, von außen betrachtet jedoch absurd bleibt.
Letztlich kann man sich kaum der Prägnanz dieser Deutung entziehen und muss sich die unbequeme Frage gefallen lassen, ob es nicht bei aller Reflexion, bei aller Philosophie und allen Versuchen das Gewebe der Welt gedanklich zu durchdringen, nichts weiter ist als ein Frühjahrsputz auf der Titanic, inhaltslose Rituale, eine Art von Beschäftigungstherapie bis das Schiff gesunken ist und an der Oberfläche dennoch nichts fehlt.
(1) Nooteboom, Cees: Rituale. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993. S. 209.
(2) Ebd. S. 208.
(3) Ebd. S. 209.
Nun, wer die vernünftige Welt verwirft und sich einem schonungslosen Relativismus öffnet, der hat bereits Philosophie betrieben und wenngleich es für die Welt wohl wenig Fortgang bedeutet, so doch für die Person – in diesem Fall war der Ausbruch aus der Doktrin dann nur durch Philosophie möglich. Insofern stellt sich die Frage, inwiefern man von Beschäftigungstherapie reden kann, die primär die Beschäftigung und keineswegs die Suche nach Erkenntnis im Blick hat, denn seine Erkenntnis kommt notwendigerweise nicht ohne die Suche, nicht ohne die Philosophie, aus.
Darüber hinaus würde ich der Philosophie nicht die Aufgabe des Sinnstiftens zuschreiben, sondern es als eine mögliche Aufgabe charakterisieren, denn was wir in dieser Geschichte sehen ist anscheinend jemand, der, wie Du schreibst, sich dem Sinnstiften versucht zu entziehen. Philosophie – als Erkenntnistätigkeit in actu – kann also auch dem Sinnstiften entgegenwirken. Es ist eigentlich nicht grundsätzlich verscheiden von Camus‘ Absurdität und bei beiden stellt sich die Frage, wieso daraus ein rigoroser Egoismus folgen muss, der sich "am Funkenflug der Welt" erfreut. DIeser Übergang ist m.E. keineswegs eine Notwendigkeit, zumal (ich kenne die Geschichte nicht) er sich anscheinend nicht vollständig herauslösen kann und immer noch spricht, wobei gerade Sprache eine sinnstiftende Institution ist.
Aber ich gleite ab, was ich eigentlich zum Ausdruck bringen wollte war: (a) Während er in seinem Selbstbild als Person für die Welt überflüssig ist, war für ihn als Person die Philosophie nicht überflüssig, denn sie hat ihn von einer, wie er sagt, Doktrin, geläutert und ist Ermöglichungsgrundlage des Lebens, das er fortan führt. Dies ist keine Kleinigkeit, denn wäre es ihm davor schon gleich gewesen, was in dieser eigentlichen sinnlosen Welt ist, dann hätte er nicht die Mühe des Denkens auf sich genommen. (b) Aus einem schonungslosen Relativismus ist nicht notwendigerweise ein hedonistischer Egoismus abzuleiten, es ist nur eine Möglichkeit. (c) Die Erkenntnis des Sinnstiftens weicht dem Dogma des Relativismus, dieses Dogma muss er regelmäßig auf seine Konsistenz prüfen, z.B. in der Diskussion seiner Freunde, um weiterhin von einer Erkenntnis und nicht von einem Glauben ausgehen zu können, also benötigt er auch hier wieder die Philosophie als Leitung in seinem relativistischem Leben. (d) Er bleibt in der sinnstiftenden Welt und wird ihr gegenüber nur zum Teil frei, denn eines kann er nicht, er kann sich nicht "interesselos" an etwas erfreuen, er hätte dann nur ein anderes Interesse, nämlich das Objekt zur Grundlage seines Erfreuens zu machen. Sein Erfreuen ist also parasitär am Sinngestifteten ausgerichtet.
Im Endeffekt ist es die Frage nach dem Sinn der Welt und damit der Sinn des Lebens. Dabei erscheint mir wichtig zu bemerken, dass er anscheinend (wie gesagt, ich kenne die Geschichte nicht), den Sinn aus einer Vogelperspektive destruiert hat, damit ist aber nichts über die erstpersonale Lebenswelt der Menschen gesagt, die eine andere Ebene von Sinn erfahren kann, der nicht nach ewigem Bestand trachtet. Auch er kann nicht ohne Sinn leben.
Er hat sich eine der möglichen Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens gegeben und hat sich Sinn in der Sinnlosigkeit gestiftet: Die blinde Hedone.