So vieles ist verloren!

Es ist alles andere als ein Geheimnis, dass es um die Überlieferungslage der Philosophie der Antike nicht zum Besten bestellt ist. Selten erfuhr ein Gesamtwerk, wie das des Platon, eine so intensive Pflege. Richten wir unseren Blick beispielsweise auf das Gesamtwerk des Aristoteles, so bietet sich ein erschreckendes Bild von großem Verlust. Während man durch den Umstand, dass in den heutigen Bücherregalen viele Werke des Aristoteles zu finden sind, geneigt sein kann anzunehmen, dass sein Gesamtwerk recht gut erhalten ist, so lehrt ein Blick in das aristotelische Werkregister von Diogenes Laertius (DL V 22-26), dass vom Schaffen des Aristoteles lediglich ein Viertel überdauert hat. Richten wir unser Augenmerk auf Epikur, ist das Bild noch verstörender, von seinem umfangreichen Werk sind heute lediglich noch drei Briefe neben vereinzelten Lehrsätzen und Fragmenten erhalten. Von den Vorsokratikern muss erst gar nicht gesprochen werden.
Diese Liste könnte mühelos weitergeführt werden, aber die obigen Philosophen sind Paradigma für den großen Verlust genug. Ob man hoffen darf, dass einzelne Schriften wieder auftauchen, wie eine Zitatsammlung (Gnomologium Vaticanum Epicureum) von Epikur und seinen Schülern, die überraschend 1888 in einem vatikanischen Kodex gefunden wurde, ist fraglich.

Der Verlust der Bibliothek von Alexandria mit allen ihren Schätzen ist doch nur einer von vielen, wenngleich es sich hierbei um einen besonders großen handelt. Es ist nicht auszudenken, an welchem Punkt wir uns heute ideengeschichtlich befinden würden, wäre mehr erhalten geblieben, und welcher Wissensschatz uns durch einzelne Schriften zuteil geworden wäre. Und so bleibt nur zu hoffen, dass viele der Dinge, die auf ewig verloren und vergessen sind, heute von anderen neu gedacht werden, auch wenn es sich dabei dann nicht mehr um einen originären Aristoteles oder Epikur handelt.

Wir suchen überall das Unbedingte,
und finden immer nur Dinge.

Novalis: Blüthenstaub. In: Novalis. Das philosophisch-theoretische Werk. Hrsg. von Hans-Joachim Mähl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1999. S. 227 (= Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, Bd. 2).

Bertrand Russel schreibt in seinem Essay „Die tieferen Beweggründe der Philosophie“, dass einer der notwendigen Charakterzüge für eine philosophische Veranlagung ist, dass man den Wunsch hegt, „an irgendeine allgemeine Theorie des Universums oder des menschlichen Lebens zu glauben.“ (1).
Bei derartigen allgemeinen Behauptungen regt sich selbstverständlich immer die Frage, inwieweit sie Gültigkeit besitzen können. Selbstverständlich kann Philosophie als eine Wissenschaft begriffen werden, die genau nach dieser allgemeinen Theorie sucht. Aber wäre es so unvorstellbar, dass ein Student genau aus dem entgegengesetzten Grund das Studium der Philosophie aufnimmt, nämlich um zu beweisen, dass es keine allgemeine Theorie geben kann? Oder könnte man in diesem Fall spitzfindig behaupten, die allgemeine Theorie wäre, dass es keine allgemeine Theorie gäbe?
Wie dem auch sei, man sollte wohl nicht vergessen, dass Russel hier nur ein Essay niederschrieb, das sicherlich einen ganz anderen Wahrheitsanspruch, als eine wissenschaftliche Abhandlung inne hat. Dennoch, der Versuch der Motivation der Menschen zur Philosophie nachzuspüren und diese auszuforschen ist überaus interessant.
Natürlich kann man geneigt sein anzunehmen, dass einige Wissen um des Wissens willen suchen, und sich darin bereits ihr persönlicher Zweck der Philosophie ausfüllt, doch andere werden anderes suchen und ihre Motivation nicht im Wissen als Selbstzweck auffinden können.

(1) Russel, Bertrand: Die tieferen Beweggründe der Philosophie. In: Russel, Bertrand: Unpopuläre Betrachtungen. Zürich: Europa Verlag, 2005. S. 52

Wer war Heraklit?

Der Philosoph Heraklit lebte zwischen dem 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. und wird folglich zu den Vorsokratikern gezählt. Von Heraklits Tod weiß Diogenes Laertius (DL IX 3f.) zu berichten, dass Heraklit, von Wassersucht befallen, sich in einen Kuhstall in den Rindermist eingrub, in der Hoffnung die Wärme würde ihm das Wasser entziehen, und starb. Aber Diogenes gibt ebenfalls einen Bericht des Hermippos wieder, nach dem Heraklit sich in die Sonne legte, sich von einem Knaben mit Rindermist bedecken lies und dort nach zwei Tagen starb.
Heraklit erhielt den Beinamen „der Dunkle“, da seine Lehre rätselhaft war, erst recht heute, da uns lediglich 130 sehr kurze Fragmente erhalten sind.
Heraklit wähnte sich im Besitz einer Erklärung, nach der alle Dinge sich vollziehen, und die, obwohl sie immer gilt, die meisten Menschen nicht verstehen. Denn die Erklärung lag für Heraklit verborgen, man kann nach Heraklit zwar ihre Auswirkungen an allen Dingen beobachten, aber die Erklärung ohne Kenntnis ihrer Struktur daraus nicht entschlüsseln. Noch weitreichender wird diese rätselhafte Erklärung, wenn man bedenkt, dass Heraklit sie tatsächlich als universal gültig ansah und d.h. auch für das menschliche Handeln. Daraus folgt, dass die unkundigen Menschen niemals die zugrunde liegende Struktur ihres eigenen Handelns verstehen können. Lassen wir die geheimnisvolle Erklärung des Heraklits beiseite und wenden uns etwas anderem zu.
Die bekanntesten Sätze Heraklits lauten: „Alles fließt“ und „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.“ Ob diese nun aber wirklich von Heraklit stammen, oder nicht, ist in der Forschung umstritten, und so lässt uns Heraklit sogar an dieser Stelle im Dunkeln tappen.
An Heraklit scheiden sich die Geister. Seine Philosophie wurde ebenso verspottet, wie beispielsweise von Hegel verehrt.

nach: Rapp, Christof: Vorsokratiker. München: C.H. Beck Verlag, 1997. S. 61-79

Epikur – ein Vordenker

Im Jahr 306 v. Chr. ging Epikur, nachdem er in den Jahren zuvor sowohl eine Schule auf der Insel Lesbos, als auch eine weitere am Lampsakos am Ufer des Hellespont gegründet hatte, mit vielen seiner Schüler nach Athen.
In Athen soll er für 80 Minen ein Gartengrundstück gekauft haben, wo er seine Schule errichtete. Diese athener Schule zeichnete sich dabei durch einige Besonderheiten aus, so wurde dort beispielsweise kein Schulvermögen angelegt, sondern jegliches Privatvermögen blieb bestehen. Dies war Ausdruck des Umstandes, dass Epikur eine Forderung nach Kollektivierung von Vermögen als Zeichen des Misstrauens zwischen Menschen auffasste, und dieses Misstrauen war unter Epikureern (also Freunden) nach seiner Auffassung unnötig.
In weitaus höherem Maße bemerkenswert ist aber, dass in der epikureischen Schule Athens sich nicht nur freie Männer trafen, um Philosophie zu diskutieren und zu lernen. Frauen und Sklaven waren Epikur dort ebenso willkommen. Dadurch konnte Epikur zeigen, dass er seine Philosophie für eine Lehre vom Glück hielt, die für jeden Menschen, gleich ob Mann oder Frau, Freier oder Sklave, von Nutzen ist. Daran geknüpft ist natürlich die implizite Aussage, dass auch Frauen und Sklaven genauso wie freie Männer imstande sind, diese Philosophie zu verstehen und zu leben; es mag dahin gestellt sein, ob Epikur eine Art von Gleichberechtigungsgedanken hatte oder nicht (die Gleichberechtigung der Frau sollte noch über 2300 Jahre auf sich warten lassen, die Abschaffung der Sklaverei nicht ganz so lange), fakt ist jedenfalls, dass er Frauen und Sklaven dadurch, dass sie seine Schule besuchen durften, mehr Rechte einräumte, als sie sonst gewöhnlich hatten.

siehe auch: Das Vorurteil über Epikur

nach: Hossenfelder, Malte: Epikur. Zweite Auflage. München: C.H. Beck, 1998. S. 17f.

Ist die Frage nach dem Sein sinnvoll?

Was ist es, wenn wir von einem Sein sprechen? Was ist das Sein?
Martin Heidegger setzt sich mit dieser Fragestellung in seinem Werk „Sein und Zeit“ auseinander, doch zuvor muss er sich drei grundlegenden Einwänden stellen, die die Sinnhaftigkeit einer solchen Frage bestreiten.
Der erste Einwand geht davon aus, dass Sein der allgemeinste aller Begriffe ist. Heidegger entgegnet, dass die Allgemeinheit von Sein nicht die der Gattung ist. Der Autor dieses Textes gilt als Teil der Gattung Mensch und diese als der Gattung der Säugetiere zugehörig, schließlich werden die Säugetiere zur Gattung der Lebewesen gezählt. Alle in diesen Gattungen zusammengefassten Lebewesen sind, aber was haben wir dadurch über das Sein erfahren? Nicht viel, führt Heidegger an, denn das Sein übersteige alle gattungsmäßige Allgemeinheit. Wenn das Sein der allgemeinste Begriff sei, dann ist er weder der klarste noch aller weiteren Erörterung unbedürftig, so Heidegger.
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Die Frömmigkeit entspricht dem Wunsch,
um jeden Preis in der Welt eine Rolle zu spielen.

Montesquieu. Meine Gedanken. Mes pensées – Aufzeichnungen. München: Carl Hanser Verlag. (2000). S. 7

Der Begriff der Philosophie wird in vielen Zusammenhängen verwendet, z.B. wenn man von einer Firmenphilosophie spricht, einer Anlagephilosophie oder ähnlichem. Dies rührt sicherlich vor allem daraus, dass sich der Philosophiebegriff selbst einer klaren Definition entzieht, weil er selbst Gegenstand einer andauernden philosophischen Betrachtung ist.
Vor einiger Zeit noch konnte man Plakate des Deutschen Roten Kreuzes finden, die zum Blutspenden aufforderten mit dem Werbespruch: „Philosophen gibt’s überall. Blut nicht.“ Und wenn selbst Karl Popper schreibt, dass alle Menschen Philosophen sind, dann scheinen die Macher des DRK-Plakates im Recht zu sein.
Man mag nun darüber mutmaßen, ob die Texter dieses Werbespruches eine Vorstellung von Philosophie haben, oder nicht. Auffallend ist jedenfalls, dass in der Gesellschaft Philosophie primär als ein wenig „Herumdenken“ (oder schlimmer, als Schwätzerei) wahrgenommen wird. Eine Vorstellung vom präzisen und strengen Methoden unterworfenem Philosophieren ist kaum bei Menschen aufzufinden, die sich nicht ohnehin bereits mit Philosophie beschäftigen. Dieser Umstand, dass Philosophie als Synonym für ein wenig „Herumdenken“ an allen Ecken und Enden benutzt wird ist sicherlich zu einem großen Teil mitverantwortlich dafür, dass in der Gesellschaft nur noch wenig Vorstellung von Philosophie als strenger Wissenschaft besteht.
Natürlich ist eine Forderung danach, den Begriff der Philosophie nur noch im Kontext einer strengen Philosophiedefintion zu verwenden, müßig; dennoch bleibt die Frage, ob man sich unbedingt immer freimütig mit dem Begriff der Philosophie schmücken muss, und auch, ob es wirklich notwendig ist, ein derart negatives Bild von Philosophie und Philosophen aufzubauen, um Menschen zur Blutspende zu bewegen.
Philosophen gibt’s überall? Leider nicht.

Mach was Du willst. Mach Deinen Willen.

Wer kennt dies nicht: Vor dem Fenster des Büros, des Seminarraums, des Klassenzimmers liegt ein herrlicher Tag ausgebreitet da, als warte er nur darauf, von uns genutzt zu werden. Wozu? Zu allem, wonach uns der Sinn steht. Man denkt etwa: Wenn ich hier endlich rauskomme, kann ich tun was ich will. Wenn man später hinaustritt, die äußeren Zwänge abgeschüttelt hat und sich frei fühlt, zu tun, was immer einem beliebt zu tun, wird man naheliegenderweise diese Freiheit kaum in Frage stellen, sondern den schönen Tag genießen. Kaum jemand wird zuerst auf die Idee kommen, sich Gedanken darüber zu machen, ob das Gefühl nicht vielleicht trügt, ob man denn tatsächlich frei sein, in seinem Tun. Keine äußere Macht hält mich davon ab, meiner Wege zu gehen, niemand fesselt mich mit Ketten oder Aufgaben – wieso also sollte ich nicht frei sein?

Vielleicht begegnet man anderntags den vielzitierten Ausspruch Schopenhauers, dass der Mensch zwar tun könne, was er wolle, nicht aber wollen kann was er will. Und dieser Satz macht stutzig. Wenn mein tun nicht durch die Wände von Verpflichtungen eingeschränkt wird, ist es frei. Wie aber kann mein Wollen eingeschränkt werden? Liegt der wahre Feind der Freiheit in uns selbst, im Verborgenen?
„Mach was Du willst. Mach Deinen Willen.“ weiterlesen

Viele Philosophen haben nichts aufgeschrieben und von anderen, die etwas von ihrer Lehre niedergeschrieben haben, ist nichts erhalten. Ohne Zeugnisse, die von der Person selbst stammen, ist der heutige Mensch auf die Schriften von anderen verwiesen, die etwas über die Person aufgeschrieben haben.
Schopenhauer geht genau auf dieses Dilemma am Paradigma des Sokrates ein. (1) Sokrates hat selbst nichts niedergeschrieben und abgesehen von den Überlieferungen der sokratischen Lehre durch Platon sind nicht viele weitere Berichte vorhanden. Die Frage die sich hierbei stellt ist offenbar: Wie nahe an der wirklichen Person liegt die Überlieferung? Schopenhauer bemerkt, in seiner typischen Manier, dass nach Berichten Sokrates einen Bauch gehabt haben soll und dies nicht das Abzeichen eines Genies sei.
Doch man muss bei Weitem nicht so polemisch werden, in der Tat können wir nicht wissen, ob uns Platon einen stark idealisierten Sokrates präsentiert, der nicht mehr viel Berührungspunkte mit dem Original hat, oder nicht. Man kann freilich darüber nachsinnen, wie wahrscheinlich das Eine oder Andere ist, aber wissen werden wir es wohl niemals. Dies gilt, wie gesagt, für alle Philosophen, die selbst nichts niederschrieben, oder über die nicht ausreichend voneinander unabhängige Überlieferungen durch Andere existieren.
Es schadet gewiss nicht, sich über der Lektüre eines frühen platonischen Dialogs (2) ein wenig den Zweifel vor Augen zu halten, in welcher Weise Platon uns Sokrates überliefert hat und ob es einen derart überlieferten Sokrates jemals gab.

(1) Schopenhauer, Arthur: Parerga und Paralipomena. Fragmente zur Geschichte der Philosophie. Hrsg. von Frhr. v. Löhneysen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, o.J. (= Sämtliche Werke, Bd. IV). §3
(2) Die frühen platonischen Dialoge werden häufig als unverfälschte sokratische Philosophie angesehen, wobei die späteren als platonische Philosophie gelten. Diese Zuordnungen und Wertungen sind jedoch nicht immer ganz unproblematisch.