One ring to rule them all

Man sehe mir den naheliegenden Einstieg nach, denn es soll nicht vom Niedergang Gollums die Rede sein, sondern vom Aufstieg des Gyges vom Ziegenhirten zum Alleinherrscher Lydiens:
Durch eine seismische Anomalie und seine Neugier gelangte er in den Besitz eines goldenes Ringes, der ihm die Macht verlieh, unsichtbar zu werden, wann immer er ihn drehte. Durch diese seltene Gabe wurde er schnell Abgesandter des Königs, hierdurch wiederum noch nicht zufrieden: Er verführte zunächst die Königin und ermordete zuletzt den Regenten selbst, um nach dem Weib auch den Thron für sich zu haben.

Sokrates erzählt diese Geschichte um zu illustrieren, dass die Furcht vor Strafe die eigentlich moralische Haltung sei: Die Ungerechtigkeit, so Sokrates, halte Jedermann für vorteilhafter als die Gerechtigkeit. Wenn er (oder sie) also sicher sein könnte, nicht für begangenes Unrecht zur Rechenschaft gezogen zu werden, würden der augenscheinlich Gerechte und der Ungerechte gleichermaßen ohne Rücksicht nur nach dem eigenen Vorteil streben.
Wenn ein Mensch, dem solche Macht gegeben ist, nie Unrecht täte, so würden die Menschen öffentlich seine Rechtschaffenheit loben, doch insgeheim den Kopf über ihn schütteln.

Wer kennt sich gut genug, um zu wissen, wie er handeln würde, wenn er nicht einmal fürchten müsste, für seine Untaten verachtet zu werden; Wenn kein Gesetz und keine soziale Kontrolle ihn mehr fesseln?
Wer ließe sich nicht von der absoluten Freiheit verführen?

Platon: Politeia, 359c – 360c

3 Antworten auf „One ring to rule them all“

  1. Ein hoch aktuelles Gleichnis:
    Wenn ich mich frage, wo ein Mensch heutzutage in eine solche Situation gebracht wird, so fallen mir die vielen anonymen Individuen ein, welche die unzähligen Überwachungskameras in unser aller Alltag beobachten und auswerten. Unsichtbar für den Beobachteten erhalten sie Einblick in alle möglichen Einzelheiten unserer Bewegungen und Handlungen.
    Selbst wenn man dies aus Gründen der Abschreckung vor möglichen Straftaten (im Sinne des Gleichnis) oder zur so genannten Terrorbekämpfung für gut heißen würde, entsteht hier erneut die Verführung sich unerkannt und ohne Kontrolle mögliche Vorteile auf illegaler und unkontrollierte (unkontrollierbare?)Weise zu verschaffen.
    Alt, abgedroschen und dennoch immer noch ein ungelöstes Problem: Wer überwacht die Wächter?

  2. Du sprichst das Thema auf einer politischen oder vielleicht soziologischen Ebene an: Wie schützt sich eine Gesellschaft vor den Unsichtbaren, die sie scheinbar braucht, um sich vor den Unsichtbaren mit den schweren Rucksäcken zu schützen?

    Vielleicht nimmt man zwangsläufig die konkete Gefahr ernster als die latente – und daher allmählich zu viel in Kauf.

    Die Frage, wer die Wächter überwacht impliziert, dass mit der Kontrolle auch die ethischen oder moralischen Verpflichtungen zwangsläufig aufgehoben sind. Wer würde blind darauf vertrauen, dass die Beamten an den Monitoren ausschließlich das tun, wofür sie bezahlt werden?

    Wir wünschen uns eine Welt ohne Unsichtbare, eine durchschaubare und legitimierte Gesellschaftsordnung, denn wir misstrauen den Menschen.
    Aber trauen wir uns selbst?
    Könntest du von dir selbst sagen, dass niemand einen tatsächlichen und konkreten Grund hätte, dir in einer solchen Position zu mißtrauen?
    Ich glaube, mir würde der Mut fehlen, Gyges Ring eigenhändig zum Schicksalsberg zu tragen, weil mir wohl unterwegs mindestens ein guter Grund einfiele, mit seiner Macht etwas "Sinnvolles" und "Gutes" anzustellen und dann stünde ich da mit so viel Macht und ethischen Grundsätzen, die ich vielleicht ein bisschen zu schnell als sozialisiert und im Grunde unverbindlich erkennen würde…

  3. Und führe mich nicht in Versuchung…Genau darum geht es, hier liegt der Schnittpunkt, in dem man meiner Meinung nach Platons Fragestellung mit den Schlussfolgerungen der politischen Ideengeschichte beantworten kann.

    Ist das Vertrauen in die Integrität des Gegenübers dann wirklich das Gegenteil eines fundamental skeptischen Menschbilds in der man den Menschen misstraut?
    Ich denke nicht. Wenn ich einem Menschen vertraue – was im Alltag tausendfach geschieht (sei es im Straßenverkehr oder bei der simplen Benutzung einer Steckdose)- bedeutet das nicht, dass ich jedes Mal Haus und Hof darauf verwetten muss, ob mein Vertrauen auch wirklich gerechtfertigt ist.

    Ähnlich verhält es sich mit dem Ring. Macht ist immer mit der theoretischen Möglichkeit des Machtmissbrauche gekoppelt. Dieser Erkenntnis folgend erfand Montesquieu in seiner Staatslehre die Gewaltenteilung, die in der Amerikanischen Verfassung mit dem System der Checks and Balances erstmal 1776 umgesetzt wurde. Dieses Prinzip hat sich in meinen Augen bewert und sollte nicht nur im Großen, sondern auch in vielen kleineren politisch-sozialen Systemen und Systemchen ihre Widerspiegelung finden. Wann immer die Geschichte Katastrophales hervor gebraucht hat wurden solche Sicherungen vorsätzlich außer Kraft gesetzt und überwunden. Hilter zerschlug jegliche verfassungsmäßige Ordnung um sich einen Ring zu schmieden, der btw. dann auch nur ihm passen sollte.

    Im wesentlich kleineren Maßstab gilt dies auch für mich persönlich. Verantwortung und damit auch Macht zu übernehmen ist für mich ein erstrebenswertes Ziel, weil ich mir selbst vertraue und weil ich mir wünsche mit dieser Macht, kurz gesagt, Gutes zu tun.
    Dennoch habe ich keine Lust mit dieser Macht alleine an irgendeiner Spitze zu stehen. Die Beratung mit Vertrauten, der Rat von Menschen, die sich mit diversen Sachgebieten einfach besser auskennen sowie auch Führung von Menschen, wenn ich einmal gar keine Ahnung habe was zu tun ist , sollen mir in meinem Leben Checks und Balances seien.

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