In seiner im Jahre 1950 veröffentlichten und berühmt gewordenen Studie „The Lonely Crowd“ befasst sich der Kultursoziologe David Riesman mit dem Verhalten des modernen Menschen. Darin legt Riesman einige Ergebnisse dar, die eine Menge Fragen aufwerfen – nach unserem Handeln und den Gründen unseres Handels als Individuum und als Teil einer Gesellschaft.
Riesman attestiert dem modernen Individuum eine sogenannte „Außenleitung“, die unser aller Verhalten regelt. Genauso wenig, wie das nach Unabhängigkeit im Handeln oder nach Selbstbestimmtheit klingt, ist es auch zu verstehen. Nach Riesman tun und lassen wir nämlich das, was alle anderen um uns herum tun (und lassen). Maßgeblich ist demnach nicht, was wir selbst für gut oder richtig befunden haben, sondern im Gegenteil die Orientierung an dem, was sozial anerkannt ist. Der Mensch
denkt, was alle denken, lebt, wie alle leben, konsumiert, was alle konsumieren- denn sonst wüsste er nicht mehr, woran er sich halten sollte, in seiner „diffusen“ Umgebung: zu jedem Lebenskonzept sind Alternativen denkbar; „falsch“ und „richtig“ variieren mit dem Kontext, und wir schlittern mit unseren Bewertungen zwischen vielfältigen sozialen Rollen und Anforderungen durch den Alltag, beschäftigt mit der immer flexibleren Anpassung an immer schneller wechselnde äußere Umstände. Riesmans „einsame Masse“ ist eine verlorene Masse, eine ängstliche Masse, in der Individuen aus Mangel an Kontinuität, Vertrautheit und Sicherheit zum sich selbst entfremdeten Wesen, ferngesteuerten Wesen werden.
Dem gegenüber stellt Riesman die Orientierung an individuell begründeten Prinzipien, die auch in einem Kontext gelten, der in der modernen dynamischen Welt rasch sein Gesicht wechselt. In diesem Sinne könnten wir „innengeleitet“ sein, durch ein reflektiertes Bewusstsein, das sich weder aus über Generationen vermittelten Werten und Motiven noch aus dem Nachahmen des Nachbarn speist, sondern aus eigenständig entwickelten Gedanken und Beweggründen.
Wenn man nun die Haltung teilt, eine Fremdsteuerung sei weniger erstrebenswert als die Fähigkeit, selbstbestimmt zu urteilen, ist es nicht nur fraglich, auf welchem Weg man dieses Ziel erreichen kann, sondern auch, wodurch sich ein eigenes Urteil von einem „fremden“ unterscheidet. Kann man sich je sicher sein, „selbst“ gedacht zu haben? Und wäre es einem Individuum möglich, ein „richtiges“ Urteil zu fällen – müssten sich dann nicht alle darin einig sein?
Zunächst erscheint es mir höchst fraglich, ob es ein "richtiges" Urteil geben kann – richtig für mich – vielleicht für den Moment – aber richtig für alle und für immer? Es scheint mir (neben der Frage nach der Instanz, die ein derartiges Urteil unter Rückgriff auf ewige Wahrheiten fällen müsste) nicht recht lebendig bzw. dem Leben angemessen, etwas mit absolutem Anspruch entscheiden zu wollen… Innere und äußere Bedingungen sind beständig im Wandel, die Entscheidung (oder das Urteil) von gestern erscheinen mir heute in einem andern Licht, ich habe mich entwickelt, verändert, Dinge überdacht und gelernt… Ein Anderer bringt andere Bedingungen mit, versteht und empfindet die Dinge anders als ich – wie sollten wir zum Gleichen Ergebnis kommen, wenn es doch bereits höchst fraglich ist, ob zwei Menschen die selbe Situation auch nur gleich erleben?
Zudem ist es ja nicht damit getan, sich gegen das Gängige und allgemein Anerkannte zu stellen, um die eigene "Innenleitung" zu ermitteln – wenn ich genau das ablehne, was Sitte und Norm ist, dann orientiere ich mich nicht an mir, sondern eben wieder am "Außen". Am Handeln selbst wäre also die Selbstbestimmtheit nicht sicher abzulesen. Ich kann ja durchaus entscheiden, dass sich das, was alle tun, in diesem Augenblick auch für mich richtig anfühlt.
Entscheidend scheint mir in diesem Kontext die Fähigkeit, überhaupt erst zu ermitteln, was in mir selbst vorgeht, wie es mir mit meinem Handeln geht, ob es meiner Gedanken- und Gefühlslage entspricht, ob ich mich darin sehen kann, was ich tue, oder ob ich mich nicht weniger als Handelnden sondern vielmehr als Getriebenen und Gesteuerten empfinde.
Ein Gespür dafür zu bekommen (und zu erhalten), scheint mir die Zentrale Aufgabe bei diesem Problem zu sein.
Auch ich glaube nicht an ein "richtiges" absolutes Urteil- aber "relativ richtig" ist eben so flexibel wie angreifbar, und irgendwie nicht notwendiger als sein Gegenteil; so richtig wie falsch. Natürlich sind Menschen oder ihre Beurteilungen nicht starr; das wäre grauenvoll, aber sind Worte, Urteile, Ergebnisse nur Variablen? "Dinger" für andere "Dinger", die ebensogut etwas ganz anderes enthalten könnten, je nach Mensch, Wetter, Zustand? "Jetzt", "für Dich", "für mich"… ja… verflucht… Ich weiss auch nicht, ob es unmöglich ist, dass zwei Menschen etwas gleich erleben, jedenfalls lässt sich schon wieder weder das eine noch das andere sicher sagen.
Eine Art Antihaltung an den Tag zu legen aus eben diesem Grund, nein, das ist wohl kein Ausdruck von Selbstbestimmtheit. Ich weiss aber auch nicht, inwiefern das Reflektieren nützt, denn selbst wenn man einen Blick auf sich werfen kann aus der Distanz, wird auch dieser wieder (und möglicherweise von "außen"- wo fängt das eigentlich an?) gefärbt sein- naja, aber immerhin. Mir fällt da, jetzt grade, mal wieder die sog. Phantasie ein- eine Idee, eine Zeichnung, eine Geschichte- in den Dingen, die man grundlos erfindet, könnte doch ein selbstbestimmter Raum liegen, ohne Kontrolle, Bezugnahme auf allgemeines Sollen oder subjektives Wollen usw.
Ich denke, dass Reflexion ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr Selbstbestimmtheit ist. Natürlich wird man dadurch nicht zu einem anderen Wesen, dass gänzlich unbeeinflusst über den Dingen (und sich selbst) steht, aber ein Zurücktreten aus den unmittelbaren Reizen und Affekten kann Muster offenbaren, die man im Vollzug des Empfindens, Denkens und Handelns nicht (so leicht) bemerkt. Dabei erlangt man sicher keine Objektivität, aber u.U. kann man sich von etwas befreien, das eher Zwang und Einschränkung (im Fühlen, im Denken, im Handeln) ist, als Ausdruck eines aktuellen(!), lebendigen und "freien" Bewusstseins.
Phantasie (oder Kreativität) ist sicher ein Bereich, in dem Innenleitungen glühen können – unabhängig und tatsächlich frei von äußeren Einflüssen werden sie jedoch nie sein. Auch hier gibt es Konventionen, die unseren Begriff von z.B. einer Zeichnung oder einer Erzählung vorprägen. Kein Kunstwerk steht völlig frei für sich sondern ist immer auf Vorangegangenes oder Vergleichbares bezogen.
Auch der Wille des Künstlers oder der Künstlerin zum Werk entsteht nie im leeren Raum, sondern ist immer (zumindest teilweise) Ausdruck von etwas, das zuvor da war.
Eine mögliche Reaktion auf diese Unentrinnbarkeit ist das bewusste Spiel damit – eine Parodie etwa oder der gezielte Einsatz von Zitaten vorangegangener Kunstwerke.