Die Frage Senecas erscheint fast widersinnig. Das Leben ist allgegenwärtig, ein ewiges Wuchern und Blühen um uns herum, während wir Sauerstoff in unsere Lungen schaffen, das Blut in unserem Körper zirkuliert und wir freudig bekennen können, dass wir leben.
Doch Seneca hat nicht den biologischen Akt des Lebens im Blick, mehr gehört für ihn dazu, als umherwandeln zu können. Und seine eindringliche Frage dringt tief, wenn wir unser Leben betrachten. Verstehen wir tatsächlich es zu leben?
Nur eines ist uns sicher, es bleibt uns nicht ewig Zeit und am Ende „macht die Asche alle gleich.“ (2) In der kurzen Zeitspanne die wir leben, sollten wir das Leben nicht aus den Augen verlieren, denn „manche Zeit wird von uns gerissen, manche entzogen, manche entfließt. Doch am schimpflichsten ist der Verlust, der aus Unachtsamkeit geschieht.“ (3) Und vielleicht hat er recht, wenn er bemerkt: „Die Philosophie ist ein guter Rat: Niemand gibt einen guten Rat mit lauter Stimme.“ (4)
Seneca wurde vermutlich im Jahr 1 geboren und starb im Jahr 65 durch die eigene Hand, nachdem er vom römischen Kaiser der Verschwörung beschuldigt worden war und den Befehl erhielt, sich selbst das Leben zu nehmen. Seneca entsprach dem Befehl ohne einen Moment des Zögerns und Zauderns.
(1) Seneca: Epistulae morales ad Lucilium. IX, 77, 18. lat.: Viuere uis: scis enim?
(2) ebd. XIV, 91, 16. lat.: […] aequat omnis cinis.
(3) ebd. I, 1, 1. lat.: […] quaedam tempora eripiuntur nobis, quaedam subducuntur, quaedam effluunt. Turpissima tamen est iactura, quae per neglegentiam fit.
(4) ebd. IV, 38, 1. lat.: Philosophia bonum consilium est: consilium nemo clare dat.
Das verstehe ich nicht und das was ich verstehe, glaube ich nicht. "Kurze Zeitspanne" ist ein subjektiver Begriff, für Seneca vielleicht, für den das Leben eine kurze Zeitspanne ist, wenn er das alles durchdringen will, was ihn treibt. Ich kann für mich das Leben als ausreichend genüngende "lange" Zeitspanne empfinden, da ich nicht das Gefühl für mich habe, jeder Sekunde Versäumtes nachhecheln zu müssen. Wird die Zeit als kostbarestes Gut proklamiert, wird sie es. Ist sie es?
Zeit ist nun wirklich sehr relativ. Was wir aus unserem Leben machen, das zählt. Nicht das, was wir uns zu gute tun, sondern das, was wir unseren Kindern hinterlassen.
Hallo Menachem,
ja, ich gebe dir recht, "kurz" kann ein subjektiver Begriff sein. Aber er kann gleichsam relational gebraucht werden, so ist das menschliche Leben relational zur Dauer des Brennens der Sonne kurz. Aber wie dem auch sei, ich bin sicherlich nicht der Anwalt Senecas, dennoch ist denke ich klar, dass diese Gedankenfetzen seinen Standpunkt nicht vollständig wiedergeben, so etwas wie "verpassten Dingen hinterherzuhecheln" war ihm sicherlich fremd, er hatte wohl mehr die Lehre der Stoa – freilich mit seinen Modifikationen – im Sinn.
Aber das ändert natürlich nichts daran, dass für ihn die Zeit zumindest ein kostbares (wenn auch nicht das kostbarste) Gut war. Das empfindet freilich nicht jeder so.
Es zählt nur das, was wir uns gutes tun. Warum sollte für uns etwas von Belang sein, was wir gar nicht mehr erleben werden?
Warum sollte man sich damit abmühen, für seine Kinder und Nachfahren etwas zu tun? Man erlebt das doch sowieso nicht mehr; was sollte mich das dann also kümmern?