Wir sprachen bereits letzte Woche über die Einsamkeit, in welche wir in Bezug auf unser Gegenüber geworfen sind.
Vielleicht ist sich nun der Frage zu stellen, ob wir zumindest bei uns selbst sein können. Ein wenig scheint es, als könnten wir uns besser ausforschen, als unseren Freund und doch, dringen wir zu unserem Kern vor?
Der erste Einwand ist sicherlich, dass es einen solchen Kern kaum gäbe, in diesem Fall wäre unsere Erörterung auch bereits an ihrem Ende angekommen. Ohne das Konstante in uns, den Kern, können wir uns nicht in der geforderten Art und Weise erkennen, sondern immer nur Momentaufnahmen von uns registrieren, wir wären beständig im Fluss, ohne einzige Konstante im reissenden Strom der Veränderung.
Gestehen wir uns aber zu, dass es einen Kern in allen Veränderungen gäben könne, so stellt sich unwillkürlich die Frage, wie wir ihn mit Sicherheit ausmachen können und uns vergewissern, dass wir uns nicht nur eine Wunschvorstellung von uns bilden. Anscheinend können wir uns niemals sicher sein, ob es sich bei diesem Etwas um unseren Kern, oder lediglich eine Vorstellung von uns über uns handelt.
Letzte Woche sahen wir, dass wir einsam sind, weil wir unseren Freund nicht erkennen können, diese Woche müssen wir sehen, dass wir nicht einmal uns mit Sicherheit erkennen können und so auch gegenüber uns selbst einsam sind. Wir vermögen es ebensowenig bei anderen zu sein, wie wir es nicht vermögen bei uns selbst zu sein.
Ich halte es für problematisch, das Ich an einem (womöglich unveränderlichen) Kern aufzuhängen, denn das würde jedes Entwicklungsstreben in eine Flucht verwandeln.
Ich denke, dass die Identität mit sich selbst im Wesentlichen darin begründet ist, dass wir uns als der selbe Mensch erleben, der wir gestern waren und auch schon vor zehn Jahren. Jeder neue Tag verändert das, was wir zu sein glauben, aber das Kontinuierliche daran ist die Perspektive: Ich sehe zurück auf das, was mein Leben bislang war, ich schaue voraus auf meine Zukunft. Der Schnittpunkt meiner Vergangenheit und meinen Erwartungen bin ich.
Zu glauben, dass es da etwas gäbe, das gegen jede Erfahrung immun sei, das durch kein noch so einschneidendes Erlebnis verändert werden könnte, einen Kern, der sozusagen unabhängig von meinem Leben existiert, wäre m.E. erschreckend.
Andererseits verändert sich die Persönlichkeit, die wir von uns selbst entwerfen, ja auch proportional zu allen bisherigen Erfahrungen und Reflexionen: Heute bilden die letzten 25 Jahre die Grundlage meiner Erwartungen an meine Persönlichkeit – morgen sind es die selben 25 Jahre plus ein Tag. Ein Tag, an dem sich einiges ändern kann, sicherlich, aber doch wohl nicht alles auf einen Schlag.
Das schafft, glaube ich, eine gewisse Kontinuität und damit auch eine begrenzte Verlässlichkeit.
Was du also als den Kern bezeichnest, würde ich versuchen als ein Art Erinnerungsmasse zu verstehen, die relativ schwerfällig ist, und durch diese Trägheit verhindert, dass wir in unserer Selbstwahrnehmung allzusehr pendeln.
Natürlich verändern die aktuellen Erfahrungen und Erkenntnisse unsere Interpretation unserer Vergangenheit, aber doch wohl selten in einem solchen Ausmaß, dass wir uns selbst gar nicht mehr in dem Erkennen, was wir noch gestern zu sein glaubten.
"Wir vermögen es ebensowenig bei anderen zu sein, wie wir es nicht vermögen bei uns selbst zu sein."
Aber wir können einfach SEIN … und somit sind wir bei uns selbst genauso wie bei allen anderen.
Über diesen Kern habe ich vor einiger Zeit schonmal diskutiert. EIn Analogon ist in der Mathematik zu finden. Der Kern dort ist ein verstecktes Etwas, dass mithilfe von speziellen Untersuchungen und einer Normierung aufindbar und kategorisierbar wird.
Selbstverständlich möchte ich dies nun nicht einfach so übertragen, jedoch drängt sich mir dabei die Idee auf, dass die Erfahrungen, die wir in jeder Sekunde machen, nichts weiter als diese speziellen Untersuchungen sind und der Versuch, sich selbst zu beschreiben, eine Art Normierung darstellt.
Meiner Erachtung nach gibt es einen Kern, der unabhängig jeglicher Erfahrung ist. Er kann zwar durch eben solche äusserlich verändert werden und wird somit nicht wahrgenommen, aber er bleibt doch immer da. Was vermag das Wesen eines Menschen zu verändern?
…Geld, Macht, Liebe und Wahrheit fielen mir spontan dazu ein, wenn man auch einwenden könnte, dass sie nur das Verhalten des Menschen ändern. Aber welche Indikatoren haben wir denn sonst noch?
Der Grund, aus dem die Selbstbeschreibung nie langweilig wird ist, glaube ich, dass sie zum einen nie abgeschlossen werden kann und zum anderen immer vorläufig und widerspüchlich bleibt: Zu viele Motivatoren bleiben uns unbekannt und wir erleben uns selbst immer wieder anders – zutiefst menschlich ist doch, inkonsequent zu sein, Prioritäten zu verändern, Standpunkte aufzugeben, sich hinreißen zu lassen.
Einen Persönlichkeitskern anzunehmen, der vor allen Erfahrungen existiert scheint mir problematisch, denn das hieße, jeder äußere Einfluss auf das Selbst wäre bestenfalls oberflächlich. Mag dieser Kern in der unsterblichen Seele oder im genetischen Code verankert sein – die Umstände und Niederschläge des Lebens hätten eine untergeordnete Rolle, und das will mir nicht recht einleuchten.
Zudem habe ich so meine Schwierigkeiten mit dem "eigentlich" des unsichtbaren Kerns: Was bin ich denn, wenn nicht, was ich tue, sage, denke, fühle?
An den Früchten sollt ihr den Baum erkennen – dieses "eigentlich ganz anders" ist meistens nur eine Ausrede:
Was ich gelernt und erfahren habe prägt mein Denken und Fühlen. Was ich fühle und denke bestimmt mein Handeln im Rahmen der gegebenen Umstände und Möglichkeiten.
In der Selbstbeschreibung kann ich auf dieses Denken & Fühlen zurückgreifen, in der Fremdwahrnehmung habe ich nur das Handeln, um mir ein Bild zu machen: Wie authentisch kann ein Mensch "bei sich" sein, wenn er behauptet, das eine hätte mit dem anderen nichts zu tun?
Das wirft die alte Frage auf, ob ein Mensch ein vorgeprägtes Wesen besitzt oder gänzlich geprägt wird durch die Äußeren Einflüsse.
Ich denke, dass beides seine Richtigkeit besitzt. Die Dualität könnte darin liegen, dass ein wesenlicher Kern existiert, der genährt wird durch die Einflüsse und Erfahren des Lebens. Somit kann er entweder zur vollen Blüte gelangen, oder aber sich verbergen hinter den Irrwegen des Lebens.
In Bezug auf die Fremdwahrnehmung ist klar, dass hier das Wesen des anderen nicht erkannt werden kann. Ich selbst kann meinen, mich zu kennen und doch handle ich vielleicht gänzlich anders, um mich nicht zu erkennen zu geben. Was ist dann mein Wesen, mein innerer Kern? Es ist doch klar der Kern, den ICH erkenne, auch wenn niemand es je bestätigen kann. Wieso müssen dann meine Taten Einfluss auf mich ausüben? Wahrlich ist es schwer, solch ein Leben der äußeren Selbstlüge zu leben, dennoch geschieht dies zu Teilen an jeder Ecke, oftmals sogar, um das eigene Wesen zu schützen. Somit haben das Denken und Fühlen mit den Handlungen etwas zu tun, aber sie stehen nicht notwendig im Einklang.
Somit ist für mich auszuschließen, dass ein Kern existiert, da er beeinflusst von inneren und äußeren Gedanken, Gefühlen und Taten doch Bestand haben kann wie eine Buche, die eine bestimmte Art an sich hat, aber sehr stark von Außen geprägt wird – und doch bleibt sie eine Buche und verhält sich wie eine.