Wenn Philosophie der liebevolle Umgang mit der Wahrheit ist, wie Dante Alighieri schrieb, dann ist Poesie vielleicht der liebevolle Umgang mit dem Alltäglichen.
Der poetische und in gewisser Weise magische Vorgang, verwandelt ein Objekt oder einen Moment in etwas, das ungleich mehr ist. Es verschmilzt mit dem, was dahinter liegt.
Es liegt etwas metaphysisches darin und nicht zuletzt daher kommt es wohl, dass der Begriff der Epiphanie, der ursprünglich die Offenbarung Gottes bezeichnete, an dieser Stelle in die Sphäre des Profanen und Selbstverständlichen herabgesunken ist.
Der poetische Moment zeigt das Gewebe der Welt als fadenscheinig und abgewetzt, wo es am selbstverständlichsten ist und hindurch schimmert eine Tiefe und Bedeutung, die man nie beobachtet hat. Das Poetische, schreibt Genazino, ist der Gewinn einer Anschauung von etwas, was gleichzeitig als wertlos hätte übersehen werden können.
Oft ist es gerade die Tatsache, dass etwas banal und nur allzu vergänglich ist, die den Betrachter gewissermaßen mit sich hinabzieht und ermöglicht, dass man die Welt von unten, aus der Perspektive eines Objektes sieht, das schutzlos und winzig auf dem Boden der viel wichtigeren Realität liegt, als hätte es jemand dort verloren.
Der Mensch, der einen solchen poetischen Augenblick erlebt, stellt sich plötzlich eine Frage, deren Antwort zu trivial wäre, um sie zu formulieren. Er stellt sie dennoch – und wundert sich.
Der Zugang des Einzelnen zum Philosophieren ist, so glaube ich, in diesem Sinne poetisch. Der Bezug zur philosophischen Denkart ist, ebenso wie das Erleben von Poesie, zutiefst persönlich. Versucht man, einen poetischen Moment zu vermitteln gerät man auf ebenso dünnes Eis, wie wenn man jemandem erklären möchte, warum die eigene Beschäftigung mit Philosophie eine so große Bedeutung hat, denn der wahre Gehalt liegt jenseits der Argumente und hinter den Tatsachen.
Gern wird gesagt, dass Philosophen wie Kinder seien oder sein sollten, die nach allem fragen, ohne etwas vorauszusetzen. Ich mag dieses Bild nicht sonderlich, weil ein wichtiger Teil darin fehlt: Das Kind fragt um zu verstehen, aus Neugierde und nach dem Neuen. Der Philosoph hingegen fragt um zu verstehen, aus Neugierde und nach dem Bekannten und Selbstverständlichen. Was er durchdringen will, ist etwas, das den Boden seiner Welt darstellt, auf dem zu laufen er bereits gelernt hat, und durch den er nun hindurchzusehen lernen will. Das Kind und der Philosoph scheinen nur dem Menschen gleich, den das Kind nach etwas fragt, das er selbst als gegeben und bekannt annimmt, wonach er also nicht mehr zu fragen gewohnt ist.
Dieser Wechsel der Perspektive macht die bekannte Welt neu und öffnet den Blick für ihre Tiefe. Hinzu tritt der Eindruck des geheimen und geheimnisvollen: Wie konnte man so lange an etwas so rätselhaftem vorübergehen? Wie kann es sein, dass es nicht alle in seinen Bann zieht?
Der liebevolle Umgang, von dem Dante sprach, rührt meines Erachtens aus diesem poetischen und sehr persönlichen Gefühl.
Aus dem fernen Blick fremder Augen kann es nur wunderlich wirken: Was ist so aufregend an den Meditationen von Descartes oder einer alten, zufällig gefundenen Brille? Was soll dieser sonderbare Artikel? Wo doch rings herum viel Wichtigeres unsere Aufmerksamkeit fordert.
Anmerkung: Angeregt wurde ich zu diesem Artikel durch die Frankfurter Poetikvorlesung Wilhelm Genazinos, die 2006 unter dem Titel Die Belebung der toten Winkel bei Hanser erschienen ist.
Toller Artikel, auch wenn ich nicht wirklich weiß, was darauf antworten. Ein Thema, über das ich noch nie wirklich nachgedacht habe. Deswegen rege ich jetzt auch keine künstliche Diskussion an, sondern sage nochmal toller Artikel
Du schreibst echt. Danke für diesen Artikel!