Aristoteles sieht den Selbstmord durch das Gesetz der Polis (dt. Stadtstaat) verboten. Tatsächlich gab es zu der Zeit Aristoteles kein Gesetz, dass den Selbstmord unter Strafe stellte, jedoch leitet er das Verbot daraus ab, dass das, was die Gesetze nicht gebieten, automatisch verboten ist.
Aristoteles sieht jedoch, trotz des impliziten gesetzlichen Verbots des Selbstmordes, die konkurrierenden Interessen zwischen dem Selbstmörder und der Polis. Ein Selbstmörder, so Aristoteles, tut sich kein Unrecht an, denn er lässt sich den Selbstmord freiwillig angedeihen. Niemand würde sich jedoch freiwillig selbst ein Unrecht antun. Der Selbstmörder handelt also aus seiner eigenen Perspektive mit Recht, da der Selbstmord in seinem eigenen Interesse liegt. Aus der Perspektive der Polis, die unter anderem an ihrem Fortbestand interessiert ist, muss der Selbstmord als Unrecht erscheinen, da er den Interessen der Polis hinderlich ist. Aristoteles nennt auch die Strafe für den Selbstmord: Ehrverlust. (1)
Einen Hinweis auf die Strafe des Ehrverlustes findet sich an einer früheren Stelle seiner Schrift. Aristoteles nennt den Selbstmord ein Zeichen der Weichlichkeit, sofern man durch ihn versucht sich den Übeln des Lebens, wie Armut oder Liebeskummer, zu entziehen. (2) Der Selbstmörder gilt also in der Polis als Feigling, der vor den Herausforderungen des Lebens flieht. Aristoteles würde dem Feigling wohl dazu raten, sich der Tugend der Tapferkeit zuzuwenden, anstatt sein Heil im Tod zu suchen.
Dennoch, man kann von einem Selbstmörder nach Aristoteles nicht per se behaupten, dass er unrecht handeln würde. Die Wertung der Tat des Selbstmordes kann erst durch die Einnahme der jeweiligen Perspektive erfolgen. Darüber hinaus expliziert Aristoteles zu keinem Zeitpunkt, dass es keine guten Gründe geben könne, sich das Leben zu nehmen.
(1) Aristoteles: Nikomachische Ethik. V,15 1138a
(2) ebd. III,11 1116a