Was normal ist, das sehen wir meist auch als das Natürliche an. Die Abweichung hiervon ist abnormal. Wir sehen das als natürlich an, was uns in der Mehrzahl der Fälle begegnet, von dem wir die Erfahrung gemacht haben, dass dies bei den meisten Menschen so ist. Wo es abweicht, wird auch schon einmal von unnatürlichen oder krankhaften Abweichungen gesprochen, die korrigiert werden sollten. So wird aus der Beobachtung, dass etwas meistens so und so ist, eine normative Vorstellung, dass etwas so und so zu sein hat, weil es in der Natur des Menschen liegt.
Besonders im Bereich des sozialen Verhaltens ist dieser Umkehrschluss nicht unproblematisch. Schön zu sehen am Beispiel des historischen Frauenbildes. Die Frau war dem Manne untergeordnet. Das war die beobachtete Situation durch Jahrhunderte hindurch. Diese Beobachtung wurde dann mit der strikten Regel verbunden, dass sie das natürlicherweise zu sein habe und eine Frau, die dies nicht akzeptieren wollte, wurde im Allgemeinen als Wahnsinnige betrachtet.
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Wozu Philosophie?

Im gerade angebrochenen Jahr der Geisteswissenschaften wird viel über Nutzen und Nutzbarkeit diskutiert und geschrieben, auch über jenen und jene der Philosophie, doch soll hier nicht eine allgemeine oder gesellschaftliche Legitimation der Philosophie im Blickpunkt stehen, sondern die persönliche Motivation und der Sinn, den man aus der eigenen Beschäftigung mit philosophischen Problemen und Fragen zieht.

Das Zitat von Odo Marquard ist sicherlich scharf formuliert, aber auch nicht ganz von der Hand zu weisen: Der sicherste Weg zu Anerkennung und Erfolg ist das entsprechende Studium gewiss nicht, und dem Glück ist allzu tiefe gedankliche Betätigung auf den ersten Blick ebenfalls nicht zuträglich.
Warum also wenden sich seit Menschengedenken immer wieder Denker den quälendsten Fragen zu, arbeiten sich durch Berge bereits aufgetürmten Wissens und stehen zumeist am Ende nur mit neuen Fragen da? Was treibt den Menschen, wenn er ohne die Not einer aktuellen Brisanz nach Problemen sucht, um sich über diese den Kopf zu zerbrechen?
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Über wahren Altruismus ist viel gesagt und geschrieben worden, ohne dass sich eine Möglichkeit offenbart hätte zu beweisen, dass eine bestimmte Handlung zweifelsfrei ohne eigennützige Motive ausgeführt worden sei. Wenn ich mich durch eine gute Tat besser fühle, etwa weil ich mich als großzügig, hilfsbereit oder mutig erlebt habe, steht meine Selbstlosigkeit bereits in Frage: Was mein Glück befördert, geschieht insofern nie nur um seiner selbst Willen, als ich letztlich davon profitiere.

Freundschaften und Bekanntschaften erlebt man dennoch zumeist als uneigennützig, sofern sie nicht eingestandenermaßen eine Seilschaft mit einem bestimmten Ziel oder ein reines Zweckbündnis gegen die Einsamkeit sind. Selten kommt man in die Verlegenheit, zu begründen, warum man mit jemandem befreundet ist und wenn doch, so gelten Gemeinsamkeiten und zuweilen auch Unterschiede als Argumente für die empfundene Verbindung.

Es erscheint daher geradezu zynisch, wenn Arthur Schnitzler in seinem Aphorismus über die Nebenmenschen schreibt, wie seien „in jedem Fall dazu verdammt, unsere Nebenmenschen auszunützen.“
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Zeitvertreib

Zeitvertreib an sich ist ein merkwürdiges Wort. Während Mussestunden auf Entspannung oder Kontemplation verweisen, verweist der Begriff des Zeitvertreibs auf eine Tätigkeit deren einziger Sinn und Zweck es ist dafür zu sorgen, dass die Zeit vergeht.
Bedenkt man, dass Lebenszeit endlich ist, wird die Tätigkeit des Zeitvertreibs geradezu grotesk, denn was könnte Zeitvertreib anderes bedeuten, als die Abkehr von dem Anspruch seine Lebenszeit auszufüllen. Leben wird zum buchstäblichen Warten auf den Tod und die vermeintlich wertvolle Lebenszeit zu etwas, was möglichst schnell vorüberziehen soll.

Natürlich soll damit keineswegs gemeint sein, man solle danach trachten jede Minute mit möglichst viel Aktivität zu versehen, auch Entspannung und Kontemplation haben wie erwähnt ihren Platz und reichen in ihrem Sinn weit über blanken Zeitvertreib hinaus. Zeitvertreib hingegen trägt nichts zum Leben bei, er trägt es nur ab.
Es bleibt zu hoffen, dass Menschen, die das Wort „Zeitvertreib“ allzu leichtfertig im Munde führen, damit eigentlich etwas anderes meinen als das sinnentleerte Vertreiben von Zeit.

Der Tod ist im Leben allgegenwärtig. Er steht jedem lebenden Wesen bevor.
„Das Ziel unseres Lebenslaufs ist der Tod“, schreibt Montaigne in seinem Essay.
Der Tod ist vielgestaltig und interessiert sich nicht für Statistiken – wem gibt es also Sicherheit in der Bedrängnis, wenn er sich ins Gedächtnis ruft, dass er statistisch gesehen noch die Hälfte (oder mehr) seines Lebens vor sich hat? Wer kennt keine der Tragödien, die einen Menschen lange vor seiner Zeit abberufen haben?

Wenn wir den Tod fürchten ist er eine dauernde Beunruhigung, wissen wir doch nicht, wie und wann er an uns herantreten wird. Und doch leben wir nicht in ständiger Todesfurcht, könnten es wohl kaum ertragen und würden uns letztlich danach sehnen, dass er eintritt und uns aus unserer Angst vor ihm erlöst.

Was also tut man gegen die Angst vor dem Tod?
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Über Robert Musils Möglichkeitssinn

Nur eine Frage, so schreibt Musil im Mann ohne Eigenschaften, lohne das Denken wirklich: jene nach dem rechten Leben.

Nun ist unsere Gesellschaft nicht arm an Vorstellungen, wie dieses rechte Leben auszusehen habe. Unserer Gesellschaftsordnung liegt die Freiheit als zentraler Wert zugrunde und so ist sie ganz im Gegenteil sogar die vielleicht reichste an angebotenen Lebenskonzepten. Pluralisierung der Lebensstile nennt dies die Soziologie.
Mit ihrer Vielseitigkeit, die von eher Konservativen als unheilvolles Chaos beargwöhnt werden mag, verliert die Gesellschaft jedoch keineswegs an Ordnungsmacht, sie spezifiziert sie lediglich für ihre Subsysteme, Klassen, Schichte, Wertcluster – wie immer man sie auch bezeichnet.

Die Vorstellung einer Gesellschaft mit einem einheitlichen Ordnungsprinzip, den christlichen Glaubensgrundsätzen etwa, ist der Auffassung eines sozialen Gefüges gewichen, das vielfältig differenziert ist. So viele Antworten es auf die Frage nach dem rechten Leben in unserer Gesellschaft gibt, die zwar nicht alle, aber zumindest eine Vielzahl von Lebenskonzepte zulässt, so wenig gibt es folglich eine Antwort. Es kann sie ohne streitbare Voraussetzungen nicht geben – und nicht nur Musil bleibt sie uns daher schuldig.
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Kopernikanische Charaktere gesucht

Über den Glauben an die Wissenschaft haben wir bereits diskutiert.
Heute geht es mir mehr um seine Ursachen und Wirkung:

Etwas erklären zu können, wirkt ungemein beruhigend. Wenn wir etwas verstehen gibt uns das Sicherheit und eine gewisse Macht darüber. Je mehr die Menschen in ihrer Geschichte über ihre Umwelt gelernt haben, umso weniger mussten sie sich davor fürchten. Nicht von ungefähr gründeten die Menschen in der Antike ihr Weltbild auf die Vorstellung einer Gesellschaft von Göttern, die ebenso rachsüchtig, eifersüchtig, zerstritten und launisch waren wie die Menschen selbst es sind. Es liegt etwas Unberechenbares in dieser Idee, und dies entspricht auch der damaligen Welterfahrung, ein Gewitter, ein Vulkanausbruch, ein Erdbeben – erschreckende Ereignisse, die heute zwar nicht völlig ihren Schrecken verloren haben, denn schließlich sind wir auch heute noch weitgehend machtlos gegen sie, aber wir verstehen, wie sie entstehen und können sie weitgehend vorhersagen. Eine Sonnenfinsternis, die damals wohl noch die meisten Menschen in Angst und Schrecken versetzt hat, kann heute auf die Minute genau vorhergesagt werden und auch das Auftauchen eines Kometen am Nachthimmel wird eher als ein zu bestauntes und erwartetes Spektakel, denn als ein unheilvolles Zeichen für den Unmut der Götter gesehen.
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Auch unter jenen, die eher dem Fernsehen zugeneigt sind, hält sich ein diffuser Respekt vor dem Medium Buch. In einer Bibliothek wird geflüstert, wie in einer Kirche. Ein Zimmer, das viele Bücher beherbergt flößt zunächst einmal einen gewissen Respekt ein. Belesenheit wird landläufig für eine Tugend gehalten.
Natürlich gibt es gute und schlechte Bücher, solche, die eine Weile Zerstreuung bieten, und jene, die den Leser verändert und bereichert zurücklassen. Einige flößen Angst ein, etwa weil man gehört hat, es sei sehr anspruchsvoll oder gar „unlesbar“; andere meint man ungelesen als Trivialliteratur oder Schund beurteilen zu können.
Es gibt alle möglichen Arten von Bestseller-Listen und leider auch heute noch verbotene Bücher. Die Literaturwissenschaft gibt sich die größte Mühe, einen Kanon von Büchern zu erstellen, welche man (zumindest als Literaturwissenschaftler) gelesen haben muss. Einige davon werden in den Schulen von mäßigen Pädagogen dazu benutzt, jede Begeisterung für Literatur noch vor ihrer ersten Blüte mitsamt der Wurzel auszureißen. Ich selbst glaube, meine Liebe zu den Büchern trotz meines Deutschunterrichts entwickelt zu haben und zucke heute noch zusammen, wenn jemand Effi Briest erwähnt.
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Verständnis und Verstehen, hier im zwischenmenschlichen und nicht philosophischen Sinne gemeint, scheint allgemein ein erstrebenswertes Gut zu sein. Um einen Konflikt mit den Seinen zu beseitigen ist es zumeist notwendig, ihre Position nachzuvollziehen, herauszufinden wie es dazu kommen konnte, dass man etwa eine Situation oder Geste völlig unterschiedlich gedeutet und ausgelegt hat. Verständnisvoll zu sein ist wohl unumstritten eine positive Eigenschaft.

So einhellig die Meinung zu diesem Thema ist, so überraschend und sonderbar scheint der folgende Aphorismus von Arthur Schnitzler:

«Bewahre uns der Himmel vor dem Verstehen. Es nimmt unserem Zorn die Kraft, unserem Haß die Würde, unserer Rache die Lust und noch unserer Erinnerung die Seligkeit.»

Wer Schnitzler ein wenig kennt, weiß, dass er kein Derwisch und Wüterich war, dem Zorn, Haß und das Bedürfnis nach Rache lieb und teuer waren. Wie kommt er also zu einem solchen Ausspruch?
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Die Angst vor dem Fremden

Untersuchungen haben ergeben, dass ein Baby ab dem zweiten Monat auf Gesichter reagiert und zwar mit einem Lächeln. Jedoch spricht man hier noch nicht von einer sozialen Reaktion, da das Baby nicht unterscheiden kann, zwischen einem echten Gesicht und einer Attrappe, auf der Stirn, Auge und Nase dargestellt sind.
Erst zwischen dem sechsten und achten Monat wird das Kind fähig Gesichter wirklich zu erkennen. Interessanterweise merkt man dies daran, dass da Kind nur bei bekannten Gesichter lächelt. Auf fremde Gesichter reagiert es jetzt mit Angst und einer deutlichen Kontaktverweigerung. Diese Angst tritt anscheinend kulturunabhängig auf und steht auch in keinem Zusammenhang mit schlechten Erfahrungen mit Fremden. Für Entwicklungspsychologen sind hier die wichtigen Aspekte, dass das Kind Gesichter vergleichen und einordnen kann und dass es eine deutlich sichtbare Bindung zur Bezugsperson aufbaut.
Aber was bedeutet es, dass ein Baby in dem Moment, in dem es fremd und bekannt unterscheiden kann, auf das Fremde mit Angst reagiert?
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