Der Mensch, der sich mit einer ihm fremden Kultur konfrontiert sieht, beginnt zumeist diese an seiner eigenen Kultur zu messen. Dies geschieht in der Regel auf Basis moralischer Wertungen und Ansichten. Finden aus dem Blickpunkt des Betrachters moralisch verwerfliche Handlungen in der fremden Kultur statt, werden diese in den Bereich des Archaischen verbannt, über den die eigene Kultur und man selbst schon lange herausgewachsen ist.
Diese These kann selbstverständlich nur Bestand haben, sofern man objektive Werte annimmt, deren Zugang sich jede Kultur und Gesellschaft erarbeiten kann – diese Ansicht dürfte heute nur noch von den Wenigsten geteilt werden, die Mehrheit hat sich der Toleranz andersartiger Kulturen verschrieben und empfindet die Pluralität von Denk- und Lebensweisen als bereichernd.
Doch wie weit wird diese Toleranz reichen, wenn die betrachtete Kultur gegen die Grundregeln der Kultur des Betrachters verstößt, wenn beispielsweise eine gesamte Familie für das Verbrechen eines einzelnen bestraft und auf Jahre eingesperrt wird? Wird hier die Toleranz nicht erodieren und dem Wunsch weichen, in dieser Kultur eine Veränderung herbeizuführen? Vermögen wir es, uns über unsere tradierte moralische Empfindung zu erheben und der fremden Kultur die Selbstbestimmtheit einzuräumen, die wir selbst verlangen? Gerade in zentralen Fragen scheint das ein kaum bewältigbarer Kraftakt, da man seine moralischen Vorstellungen bereits so weit objektiviert hat, dass man selbst im Bewusstsein um den subjektiven Charakter dieser Ansichten, kaum anders kann, als eine Veränderung zu wünschen. Wie tolerant können wir also wirklich sein, oder bedeutet Toleranz doch lediglich die Akzeptanz von Abweichungen, die die nicht zentralen Punkte unserer Kultur und Moral betreffen?
siehe hierzu auch: Wie brüchig sind unsere Werte?
Zunächst einmal zum Thema Toleranz: kann diese denn nicht auch (ungewollt) in ihr Gegenteil umschlagen, wenn man Intoleranz mit Toleranz begegnet? Toleranz ist ja nicht immer per se etwas Wünschenswertes – oder etwa doch? Ab wann ist "Toleranz" Gleichgültigkeit, ab wann Feigheit? Toleranz kann man außerdem auch nur dann ausüben, wenn man selbst einen Standpunkt hat – und damit hängt naturgemäß auch der Wunsch nach Veränderung zusammen… Aber: ist es gerechtfertig oder eine bloße Anmaßung, sich über andere Ansichten zu stellen, indem man den Anspruch erhebt, diese ändern zu wollen und zu können?
Und: was genau ist es überhaupt, was uns eine Kultur oder einen Menschen als fremd erscheinen lässt? Das Eigene und das Fremde liegten wohl oft sehr nahe beieinander, denn wie ließe sich sonst erklären, dass wir uns gerade durch "das Fremde" (von was auch immer) in besonderem Maße bedroht fühlen?
Viele Denkanstöße. Zuerst denke ich, Intoleranz mit Toleranz zu begegnen ist nicht per se eine Verkehrung von Toleranz in ihr Gegenteil, jedoch sicherlich ein bemerkenswerter Sonderfall, der so leicht nicht aufzulösen sein wird. Ob Toleranz nun etwas wünschenswertes ist oder nicht hängt natürlich stark mit den persönlichen Einstellungen zusammen, von daher würde *ich* behaupten, dass Toleranz von Kulturen gegenüber anderen Kulturen im Anbedracht der Subjektivität der eigenen Werte das einzig richtige sein kann, problemlos lassen sich aber auch andere Begründungen finden, die ein Eingreifen, sei es mit wirtschaftlichen oder kriegerischen Waffen, oder mit Missionaren (seien sie es nun auf moralischem oder religiösem Gebiet), rechtfertigen. In den Fällen des Eingreifens würde aber immer ein Wert als objektiv empfunden, denn aus einer subjektiven Regel lässt sich an dieser Stelle vermutlich keine Handlungsmaxime ableiten. Ein komplizierter Sonderfall wäre es in meinen Augen, wenn große Teile der Bevölkerung ein Eingreifen wünschen, aber vielleicht müssen wir die Sonderfälle nicht alle gleich lösen. 😉
Im Rahmen des Umstandes sich der eigenen Subjektivität in moralischen und (wohl wichtiger) ethischen Fragen bewusst zu sein macht es nach meinem dafürhalten immer zur Anmaßung, sich über die Werte anderer zu erheben, da das Erheben wiederum durch ethische Annahmen gestützt wird, z.B. durch utilitaristische Äußerungen wie "Bei uns geht es mehr Menschen besser.". Toleranz ist aber wohl nie Gleichgültigkeit, da Toleranz immer den Respekt für das Gegenüber miteinschließt und dies ein aktiver Vorgang ist, ein Entschluss, der immer wieder erneuert werden muss; wäre der Respekt nicht miteingeschlossen, wäre die Toleranz wirklich kohärent mit der Indifferenz und bedürfte kaum eines eigenen Begriffes.
Das, was uns eine Kultur fremd erscheinen lässt, ist das, was es uns erlaubt unsere eigene Kultur zu definieren. Definitionen sind ja bekanntlich immer Abgrenzungen. Aber ich denke das Gefühl der Bedrohung wächst genau dort, wo zentrale Punkte der eigenen Kultur in einer anderen nicht erfüllt sind, man fühlt sich mit seinen Werten in Frage gestellt.
Mir ist gerade noch etwas eingefallen, was ich noch einmal explizit betonen wollte, es aber vergessen habe. Für den einen mag es selbstverständlich sein, aber der Vollständigkeit halber: Die Toleranz hat ihren Ursprung in genau den subjektiven Werten, die die Toleranz wünschenswert machen. Die Toleranz als Handlungsmaxime steht also keineswegs außerhalb der Moral und Ethik, sondern hat ihren Ursprung genau in ihr und damit die gleiche subjektive Gültigkeit.
Ich glaube nicht, dass es unbedingt ein Sonderfall ist, wenn mit "Toleranz" auf Intoleranz reagiert wird – ich glaube im Gegenteil sogar, dass das weit verbreitet ist. Die Thematik des Eingreifens ist ein hochsensibles Thema, über das sich vermutlich endlos diskutieren ließe… jetzt nur soviel: man muss die eigenen Beweggründe und Werte nicht unbedingt als objektiv betrachten, um ein Eingreifen (in welcher Form auch immer) zu rechtfertigen. Man muss die eigenen Beweggründe noch nicht einmal kennen; es reicht, sich selbst oder das, womit man sich identifiziert als überlegen zu betrachten. Ein großes und weit verbreitetes Problem!
Ich stimme dem zu, dass Toleranz nie Gleichgültigkeit sein kann; allerdings haben wohl viele Menschen einen etwas schwammigen Toleranzbegriff, mit dem sich problemlos auch Handlungsweisen verschleiern lassen, die ich wohl schon als indifferent, respektlos oder auch schlicht als dumm bezeichnen würde.
Auch glaube ich, wie schon angedeutet, nicht, dass das Gefühl der Bedrohung aus einem bloßen Anderssein des Anderen erwächst. Kurz ein Zitat (von Arno Gruen), das hoffentlich verdeutlicht, an was ich in etwa denke, wenn ich mich so gegen diese Ansicht zur Wehr setze: "Die Entstehung des Fremden und dessen Externalisation stehen in direktem Bezug zum Intimsten des Menschen, zu seiner Identität. Entscheidend ist die Frage: Was bleibt für dessen Entwicklung, wenn all das, was dem Menschen eigen ist und ihn als Individuum ausmacht, verworfen und zum Fremden gemacht wird?" –
(Den Hinweis darauf, dass Toleranz immer innerhalb von Moral und Ethik steht, finde ich übrigens enorm wichtig.)
Sicherlich ist das Problem Toleranz zu Intoleranz nicht selten, ich habe mich da wohl etwas unglücklich ausgedrückt. Was ich meinte war, dass es im Gesamtthema der Toleranz ein Sonderfall ist, weil hier ein Problem auftritt, was sonst nicht vorhanden ist. Auflösen kann ich es hier leider auch nicht, jedoch könnte ich mir vorstellen, dass es in verschiedenen Ebenen gedacht, nicht immer zu einer paradoxen Konfrontation führen muss, erst wenn sich Toleranz und Intoleranz auf der gleichen Ebene bewegen rückt die Möglichkeit einer Auflösbarkeit in weite Ferne. Wie gesagt, nur ein Gedanke, kein fertiges Konzept.
Aber noch zur Frage des Eingreifens: Ich denke schon, dass die eigenen Werte objektiviert sein müssen, um ein Eingreifen zu rechtfertigen, denn das Gefühl von Überlegenheit kann nur auf diese Weise seine Triebe entfalten. Das Gefühl der Überlegenheit geht ja auch auf ein Urteil zurück. Auf ein "besser" und ein "schlechter". Diese Urteile benötigen eine Bewertungsmaßstab, wie z.B. den utilitaristischen Nutzen. Hat man diesen Bewertungsmaßstab nicht objektiviert, kann meines Erachtens nach kaum ein Gefühl der Überlegenheit aufkommen, da man weiß, dass man es nur für überlegen *hält*, es aber für die Anderen nicht überlegen *ist*. Das diese Bewertungsmaßstäbe aber in der Regel gerade nicht reflektiert werden und man nur den üblichen Sitten und Gebräuchen entspricht, mit denen man aufgewachsen ist, ist gerade die tückischste Form der Objektivierung.
Ich stimme Dir zu, das dass Fremde für Progression eine gewisse Notwendigkeit hat, wenngleich natürlich die Frage ist, ob es dazu einer anderen Gesellschaft bedarf, oder ob es auch innerhalb der eigenen Gesellschaft entstehen kann, oder ob man dann innerhalb einer Gesellschaft schon von zwei Gesellschaften sprechen kann. Aber kaum eine Kultur hat sich alleine entwickelt, sondern ihre Entwicklung besteht (von wenigen Ausnahmen abgesehen) aus einer Abfolge abertausender interkultureller Interaktionen. Runtergebrochen lässt sich das sicherlich auch auf das Individuum übertragen. Ich glaube, das meintest Du, oder?
Dennoch denke ich, dass moralische Maßstäbe, die den eigenen diametral entgegengesetzt sind, auch gerade deshalb so feindselig und voller Unverständnis aufgefasst werden, weil sie automatisch immer die eigenen in Frage stellen.
Dem meisten kann ich so eigentlich zustimmen. Aber "das Fremde" als eigenständiges Phänomen ist so vielschichtig und interessant (nun gut, was ist das nicht?…), dass es sich lohnt, darüber nochmal etwas zu sagen: ja, ganz wichtig ist, dass die eigenen Maßstäbe immer in Frage gestellt werden und daraus die Angst und die Feindseligkeit erwächst. Aber das (in radikaler Weise) doch auch nur dann, wenn die eigenen Ansichten auf stark autoritären und hierarchischen Strukturen beruhen – oder? Denn wenn man von vorn herein Dialogbereitschaft zeigt, zeigt das doch auch, dass man seine Ansichten nicht für absolut hält. Dann besteht allerdings auch wieder die Gefahr der Indifferenz – womit wir wieder beim Problem der tolerierten Intoleranz wären… Auf jeden Fall: radikale Reaktionen auf Ansichten, die den eigenen widersprechen, entstehen doch wohl in erster Linie bei solchen Menschen, die sich durch die Infragestellung dieser Werte selbst in ihrer Identität in Frage gestellt fühlen, da sie sich über eben diese Werte definieren.
Der Kreis schließt sich, nun stehen wir wieder am Anfang… aber etwas klüger als zuvor. Und doch, wie weit reicht unsere Toleranz? Wann werden wir autoritär und intolerant? Könnten wir tolerieren, wenn in einer Kultur eine bestimmte Kaste von Männern zu Gladiatorenspielen mit tödlichem Ausgang gezwungen werden würden? Könnten wir die Eigenart einer Kultur respektieren, die Menschenopfer fordert (z.B. die halbe Familie), um Unrecht wieder gut zu machen?
Nach wie vor bin ich mir nicht sicher, ob selbst bei Menschen, die ihre Einstellung nicht absolut setzen (mich eingeschlossen), hier Toleranz aufrechterhalten werden kann, oder ob ein Anflug von moralischem Gefühl eine Veränderung bestrebt und man nicht anders kann, als intolerant zu fühlen, wenngleich man ungern in dieser Weise denkt, und doch nicht anders als anders denken kann. Die Objektivierung von sog. fundamentalen Menschenrechten ist stark und tief, ich muss gestehen, ich kann sie nur abstrakt als subjektiv denken, aber könnte sie niemals subjektiv leben.