Untersuchungen haben ergeben, dass ein Baby ab dem zweiten Monat auf Gesichter reagiert und zwar mit einem Lächeln. Jedoch spricht man hier noch nicht von einer sozialen Reaktion, da das Baby nicht unterscheiden kann, zwischen einem echten Gesicht und einer Attrappe, auf der Stirn, Auge und Nase dargestellt sind.
Erst zwischen dem sechsten und achten Monat wird das Kind fähig Gesichter wirklich zu erkennen. Interessanterweise merkt man dies daran, dass da Kind nur bei bekannten Gesichter lächelt. Auf fremde Gesichter reagiert es jetzt mit Angst und einer deutlichen Kontaktverweigerung. Diese Angst tritt anscheinend kulturunabhängig auf und steht auch in keinem Zusammenhang mit schlechten Erfahrungen mit Fremden. Für Entwicklungspsychologen sind hier die wichtigen Aspekte, dass das Kind Gesichter vergleichen und einordnen kann und dass es eine deutlich sichtbare Bindung zur Bezugsperson aufbaut.
Aber was bedeutet es, dass ein Baby in dem Moment, in dem es fremd und bekannt unterscheiden kann, auf das Fremde mit Angst reagiert?
Einer der ersten sozialen Akte eines Kindes kann also demnach als eine Unterscheidung zwischen zugehörig und nicht-zugehörig aufgefasst werden. Das würde bedeuten, dass die Angst vor dem Fremden etwas angeborenes ist, das nicht von schlechter Erziehung hervorgerufen, sondern nur verstärkt werden kann. Gute Erziehung könnte sie vermindern und im Idealfall annähernd auflösen. Aber eine Urangst kann sich nicht völlig ins Nichts auflösen, auch wenn sie durch spätere Einflüsse sehr tief ins Unbewusste vergraben wird. Sie kann sich immer wieder ihren Weg bahnen, und auch bei einem Menschen, der eigentlich fest an Toleranz glaubt, auf Umwegen hervortreten.
Dies entschuldigt nun nicht eine intolerante und abwehrende Haltung gegenüber etwas fremden, denn wir sind keine sechs Monate alten Babys mehr und können uns nicht dahinter verstecken, dass ein solches Verhalten Natur seie. Schließlich haben wir auch andere Urverhaltensweisen ändern können. (Wie brauchen ja auch keine Windeln mehr.)
Vielmehr erinnert uns diese Erkenntnis daran, uns immer wieder kritisch zu hinterfragen, ob wir tatsächlich so offen sind, wie wir denken oder ob sich durch die Hintertür doch wieder eine Angst vor dem eingeschlichen hat, was nicht zu unserer kleinen Welt zugehörig ist.
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Siehe hierzu: F. Pohlmann, Die soziale Geburt des Menschen, Weinheim und Basel 2000, S.35ff
Ohne mich allzu gut mit der Psychologie kindlichen Verhaltens auszukennen macht mich der Artikel ein wenig stuzig:
Es gibt wohl kaum etwas Hilfloseres als ein menschliches Kleinkind und so ist es für mich naheliegend, dass es die Bindung an seinen Bezugspersonen bestätigt und auf das Fremde ablehnend reagiert.
In einer Phase, in welcher ihm mehr Autonomie und ein breiteres Spektrum an Kommunikationsmiteln zur Verfügnung stehen, wird ein Kind ungemein neugierig und versucht das Fremde kennenzulernen, die Welt um es herum zu entdecken.
Beide Verhaltensweisen sind m.E. zutiefst menschlich, weshalb ich nicht unbedingt von "gut" und "schlecht" sprechen würde:
Das Unbekannte ist allein deshalb eine "Bedrohung", weil wir noch nicht wissen, wie und ob es in unsere Welt passt; in der sozialen Dimension hieße das, dass dir noch keine konkreten Erwartungen haben, die uns das Verhalten des Fremden voraussehen lassen und nicht wissen, was er oder sie von uns erwartet, also für das eigene Verhalten weniger Anhaltspunkte haben, als im Umgang mit Bekannten und Bekanntem.
Ich würde hier nicht von Angst sondern eher von Verunsicherung sprechen. Diese Unsicherheit liegt wohl in der Natur der Sache und es wäre eher ein Indiz für tiefgehende Vorurteile, wenn sie nicht aufträte, denn woher sollen meine Erwartungen so schnell kommen?
Wenn man interagieren will, muss man diese Undefiniertheit schnellsmöglich auflösen, zum Teil durch das Schließen aus ähnlichen Erfahrungen (also durch Vorurteile), zum Teil durch die Erfahrung mit dem Fremden selbst.
Letzteres dauert seine Zeit und so lange gilt es die Unsicherheit auszuhalten, was vielleicht eine Frage des Temperaments ist: der Ängstlichere neigt eher dazu, allzu "großzügig" zu schließen, der Mutigere gestattet dem Umbekannten länger unscharf zu bleiben, um ein präziseres und individuelleres Bild von ihm zeichnen zu können.
Beide stehen jedoch vor dem selben Problem, das Unbekannte zu erschließen, und bekommen die selbe Verunsicherung zu spüren. Ich halte dies jedoch nicht für eine Urangst, sondern für ein allgemeines Problem der Welterfahrung.
Dennoch wäre es möglich, dass es sich hierbei um eine Urangst handelt, selbst wenn sie zusammen mit der Neugier ein komplementäres Paar bildet. Die Bindung zu den Eltern wird [afaik] in der Psychologie ja auch als Urvertrauen charakterisiert, hierzu bedarf es eines Gegenpaares, das dann zwangsläufig die Urangst sein muss.
Aber ohnehin glaube ich, dass ihr beide was die Auswirkungen angeht nicht weit auseinander liegt, denn die Haltung zur Welt, jenes Stück Sozialisation, welches den Ton angibt, verdeckt und auf ewig, um was es sich handelt, Urangst, allg. Welterfahrungsproblem, oder ….
Dennoch wage ich mal mutig meinen Eindruck zu behaupten, dass der Mensch vom Fremden überzeugt werden muss, oder sich selbst überzeugen muss; und das nicht nur bei Menschen, sondern auch beim alltäglichen "Neuen" (folglich noch Fremden), den Dingen die sich ändern und mit unseren Habiti konfligieren, tuen wir uns oft schwer und bleiben in unserem Gewohnten verhaftet – selbst wenn das Neue/Fremde einige Vorzüge aufweist. Wir brauchen Zeit über alle rationalen Erwägungen hinaus.
Als Fremd ist doch das zu bezeichnen, was uns bis dato unbekannt war. Etwas das uns noch nicht erreichte in dieser Form. Als fremd sehe aich etwas, was sich ausserhalb des Rahmens unserer üblichen, bewussten Wahrnehmung bewegt.
Bei Erwachsenen ist eine sehr häufige Schwierigkeit zu finden, sich auf etwas einzulassen, was sie noch nicht kennen – was ihnen also fremd ist. Sie haben noch nie die Erfahrung gemacht, wie erfüllend es sein kann, sich auf etwas Neues einzulassen. Mit all seinen Überraschungen und Wundern.