Voller Ekel stehen sie vor den Dingen
vor der Leere des gewöhnlichen Lebens
krank am Reichtum ihrer Seelen.
vor der Leere des gewöhnlichen Lebens
krank am Reichtum ihrer Seelen.
– Stendhal
in: Expressionismus als Literatur. Gesammelte Studien. Hrsg. von Wolfgang Rothe. Bern: Franke Verlag (1969): S. 358
Hm, dieses Zitat ist eigentlich furchtbar elitär und arrogant. Gemildert wird es beim Lesen eigentlich nur dadurch ein bißchen, dass fast jeder sich einfach zu diesen "reichen Seelen" dazuzählen wird – zumindest auf alle Fälle die, die grade ziemlich genervt vom Leben sind.
Dadurch zählt man sich selbst zur elitären Gruppe und spürt den Faustschlag in das Gesicht der restlichen Welt nicht gleich. Aber voller Ekel auf die Leere des gewöhnlichen Lebens? Gibt es das gewöhnliche Leben überhaupt? Ist es wirklich leer? Kann man sich dem gewöhnlichen Leben entziehen?
Das sind Fragen, die meiner Meinung nach umso schwieriger zu beantworten sind, je mehr man darüber nachdenkt. Ich denke mal etwas darüber nach und falls mir interessante Antworten einfallen, werde ich sie hier mitteilen.
Es ist klar, dass Stedhals Satz zunächst ziemlich arrogant und exklusiv wirkt, doch lese ich zumindest ihn eher so, dass er ein Gefühl zum Ausdruck bringt und nicht seine Überlegenheit über andere Menschen.
Das Gefühl, abgeschreckt und angewidert zu sein, von den alltäglichen Geschäftigkeiten und dem Treiben der Welt, das nach nichts fragt und den Vorhang des Welttheaters nicht zur Seite ziehen will, kann wohl jeder nachvollziehen, der seine Zeit damit verbringt, philosophische Blogs zu lesen.
Damit ist sicher nicht gesagt, dass sich hier eine wie immer geartete Elite trifft, sondern vielmehr, dass dieses Gefühl oder Bedürfnis weiter verbreitet ist, als man sich in solchen Momenten vor Augen führt.
Der "Ekel" ist sicherlich eine Begleiterscheinung der Verstiegenheit ins Fragen und einer gewissen romantischen Lebensunfähigkeit, doch erhebt das die "reiche Seele" sicher nicht über Andere. Stendhal spricht nicht zufällig vom "gewöhnlichen Leben" und nicht etwa von den "gewöhnlichen Menschen".
Er bezieht sich m.E. auf das Gewöhnliche, auf das Seichte und oft absurd wirkende im eigenen Leben oder im Leben generell.
Gewiss begegnen uns Menschen, die wir dieser Empfindung für unfähig halten, doch wäre es vermessen, daraus zu schließen, dass man besser oder wertvoller wäre, als diese Menschen. Was weiß man schon über sie?
Ich musste ein wenig lächeln, als ich das Zitat las, weil ich an André Breton denken musste, der im surrealistischen Manifest etwas weniger sensibel formuliert:
Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings soviel wie möglich in die Menge zu schiessen. Wer nicht einmal im Leben Lust gehabt hat, auf diese Weise mit dem derzeit bestehenden elenden Prinzip der Erniedrigung und Verdummung aufzuräumen – der gehört eindeutig selbst in diese Menge und hat den Wanst ständig in Schusshöhe.
Ok, es ist lange her. Ich hatte dieses Kommentar angefangen und vergessen, aber es jetzt doch mal beendet.
Den ersten Teil deines Kommentars kann ich nachvollziehen. Ob ich ihm zustimmen kann, bin ich mir immer noch nicht ganz sicher. Klar gibt es dieses Gefühl, dass das alltägliche Leben nach nichts fragt und man etwas abgeschreckt ist, weil man doch immerzu gerne ‚den Vorhang beiseite ziehen‘ möchte für den sich viele schlichtweg nicht interessieren. Vielleicht ist es dann sogar noch enttäuschender, wenn man merkt, dass es manchmal keinen Vorhang gibt, oder sich nichts hinter ihm verbirgt.
Aber trotzdem: Jedes Wort impliziert auch etwas. Das Wort ‚Reichtum‘ impliziert für mich, dass es mehr ist als ‚Normal‘ oder eben ‚Armut‘. Dass das Wort auf eine besondere, hm, sagen wir mal Auszeichnung oder Eigenschaft verweist, die bestimmten Seelen zuteil wird, wird für mich auch dadurch noch deutlicher, dass es diese besondere Eigenschaft des seelischen Reichtums ist, die, zugegebenermaßen nicht so positiv, krank macht. Sie ist anscheinend auch für den Ekel verantwortlich, die man gegenüber dem gewöhnlichen Leben empfindet. ‚Gewöhnlich‘ ist aber nun im allgemeinen ein etwas negativ belasteteres Wort als ‚Reichtum‘; und in diesem Zitat ist der Reichtum anscheinend soweit vom Gewöhnlichen entfernt, dass er nur noch Ekel empfinden kann.
So scheint es mir zumindest und deswegen kann man zwar sicherlich dieses Zitat so oder so lesen, aber ich lese es doch eher als elitär.
Im Übrigen finde ich, dass dein Zitat von Breton ja wohl in gewissem Sinne auch sehr deutlich einen Wertunterschied zwischen reichen (wertvolleren) und ärmeren (weniger wertvolleren) Seelen macht. Schließlich wird hier der einen Art Seele bzw. Mensch nicht nur eine gewisse Legitimation (wenn sie wohl auch nicht reicht, um das Schießen wirklich zu vollziehen) zur Tötung der anderen Art zugestanden, es ist hier sogar ein Wesensmerkmal der reicheren Seelen, dass sie anscheinend so viel Ekel vor den erniedrigten und verdummten Seelen haben, dass sie nicht anders können als Mordgelüste gegen diese zu bekommen. Wer diesen Ekel nicht hat, ist wohl nicht weit genug von den (weniger wertvolleren) armen Seelen entfernt und es also auch nicht wirklich wert weiterleben zu dürfen. Auch wenn nicht tatsächlich geschossen wird, ist die Lebenslegitimation nicht mehr 100%.
Es ist wenig dagegen zu sagen, wie du das Verhältnis zwischen den "reichen Seelen" und den – nunja – ärmeren siehst.
Ich würde in diesem Kontext allerdings von einem Empfindungsreichtum ausgehen, der wohl eher Fluch denn Segen ist. Man könnte etwas überspitzt einen Choleriker auch als empfindungsreich bezeichnen. Ein mindestens ambivalenter Reichtum, wenn du mich fragst.
Das Gefühl, wenn ich Stendhal da richtig verstehe (zumindest interpretiere ich es so) ist ja gerade eine, zumindest subjektiv Empfundene, Entfernung oder Entfremdung. Wird dieses Gefühl geteil, so meine Erfahrung, verliert es seine Brisanz.
Ich glaube, man darf sich hier nicht dazu hinreißen lassen, eine gemeinsam den Ekel empfindende Gruppe oder Elite zu sehen, sondern mehr eine Fernsten-Gemeinschaft, die nur duch den Ekel "verbunden" ist.
Selbstverständlich darf man Breton hier nicht beim Wort nehmen: Wie könnte man wohl legitimieren, auf Unschuldige zu schießen?!
Ich denke, er schreibt sich hier den Frust von der Seele; Ich bin gestern erst über eine kurze Erzählung von Dostojewskij gestolert, die es ganz gut schildert, wie ich finde. Sie heißt "der Traum eines lächerlichen Menschen" und es geht, grob gesagt, um einen Mann, der das Paradies und den Sündenfall (weniger im christlichen Sinne, sondern mehr als die Korruption einer glückseligen Gesellschaft durch Lüge, Neid und den Verlust der unmittelbaren Empfindung des Lebens) im Traum erlebt.
Als er erwacht bleibt ihm das Gefühl erhalten, das er empfand, als er in jenem "Paradies" war und er beginnt, allen davon zu erzählen, weiht sein Leben der Verbreitung seiner Offenbarung.
Er wird überall als lächerlich empfunden und sieht sich selbst nicht anders, weiß, dass er lächerlich sein muss, doch beseelt von der universellen Liebe, die er im Traum erlebt hat, liebt er jene, die ihn auslachen. Für ihn bleibt das Gefühl ungetrübt: Wenn sich nur alle entscheiden würden, im Paradies zu leben, würde es wahr.
Man stelle sich vor, dass er in seinem Glauben nicht so unantastbar gewesen wäre: Er wäre verzweifelt und seine Wut hätte sich allein an der Blindheit der Menschen für seine einfache Wahrheit entzündet. Er wäre durchaus in der Lage gewesen, etwas im Sinne Bretons festzustellen oder gar zu tun.
Dostojewskij zeichnet sicherlich einen statistischen Ausreißer, doch glaube ich, dass das Grundgefühl ähnlich ist.
Es wäre kein großer Schritt für die "anderen" zu sehen, was er sieht und vieles wäre besser, wenn sie es täten, doch sie lachen nur oder schütteln den Kopf.
Von Legitimation kann sicher keine Rede sein, aber ich kann durchaus nachvollziehen, dass die eigene Hilflosigkeit irgendwann in Wut oder eine umfassende Frustration umschlägt. Dann finde ich, tut es gut, Zitate wie das von Stendhal oder den Aphrismus Bretons zu lesen, oder eben doch wieder Kästner:
Ja, die Bösen und Beschränkten
sind die Meisten und die Stärkern
aber spiel nicht den Gekränkten.
Bleib am Leben, sie zu ärgern!
(aus dem Gedicht "Warnung vor Selbstschüssen")
Hi, ausgerechnet, zufällig heute, nachdem ich nach langer Zeit mal wieder hier etwas lesen wollte, begegnet mir dieses Zitat auf der Startseite und ich muss etwas dazu schreiben.
Sonjas Blickwinkel hat meinen etwas erweitert, denn so kamen diese Zeilen gar nicht bei mir an. Dass man sie so lesen kann, kann ich aber jetzt auch sehr gut nachvollziehen. Es liegt Ironie darin, dass sie sich wohl nur aus einer gewissen Distanz zu den "gewöhnlichen" Dingen verfassen wie lesen lassen, die dann genau dieses Ekel- Gefühl wiederum hervorbringt. Das hat etwas Dekadentes, auf jeden Fall… so satt muss man erst mal werden, um an Übersättigung zu kranken. Und es ist immer "gefährlich", etwas über "die Dinge" und dann auch noch "des Lebens" zu formulieren, weil es dann nach Allgemeingültigkeit klingt.
So eine Art von "Seelenreichtum" jedenfalls trennt für mich hier weniger die Spreu vom Weizen, das wäre ja noch schöner, nein, eher zunächst die, denen sich aufgrund von zb materieller und gesundheitlicher Unbesorgtheit die Gelegenheit bietet, den Blick auf etwas anderes zu werfen oder werfen zu wollen. Und dann denke ich, in der Tat, nicht jeder möchte das, und nicht jedem fehlt etwas und dann noch so bewußt.
Darum sehe ich auch in diesem Zitat etwas anderes als so eine Unterscheidung, sondern für mich drückt sich darin ein relativ schlichtes menschliches Bedürfnis aus, das ich -unberechtigterweise- dann doch für universell halte: Ganzheit halt… Übereinstimmung. Es ist die Diskrepanz, das Auf- und Ab, das Wünschen und das Erfüllen selbst (tja- diese Abläufe sind doch die "gewöhnlichen Dinge") und die gleichzeitige Empfindung, da nicht herauzukommen, in einem sinnlosen Kreislauf zu stecken, der in seiner Wiederholung so banal erscheint- während der "Reichtum" für mich eine Sucht ausdrückt, eine Unfähigkeit, mit dem "Weitermachen" aufzuhören. Auf die Sattheit folgt der Hunger und umgekehrt- zu blöd.
"Eine Krise kann jeder Idiot haben. Was uns zu schaffen macht, ist der Alltag." – sagt, etwas trockener, A. Tschechow.
Grüße, Lotte